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Rollende Steine

Rollende Steine

Titel: Rollende Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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gestern nacht mitteilen?«
    »Dir mitteilen?« Der Rabe wirkte plötzlich verlegen.
    »Ich meine die Da-da-da- DAH -Sache.«

    Der Rabe kratzte sich am Kopf.
    »Die Ratte hat mir verboten, dir al es zu sagen. Ich sol te nur auf das
    Pferd hinweisen und hab’s ein wenig übertrieben. Ist es inzwischen er-
    schienen?«
    »Ja!«
    »Reite es.«
    »Das habe ich bereits. Es kann unmöglich ein richtiges Pferd sein. Richtige Pferde wissen, wo sich der Boden befindet.«
    »Es gibt kein richtigeres Pferd, junge Dame.«
    »Ich kenne seinen Namen. Der Hengst heißt Binky. Und ich bin schon
    mal auf ihm geritten.«
    Der Rabe seufzte. Besser gesagt, er gab ein zischendes Geräusch von
    sich, das einem Seufzen so nahe kam, wie es mit einem Schnabel, mög-
    lich ist.
    »Reite das Pferd. Seine Wahl ist auf dich gefal en.«
    »Seine Wahl? Und wohin sol ich reiten?«
    »Das mußt du selbst herausfinden. Ich darf es nicht wissen.«
    »Nehmen wir mal an, ich wäre dumm genug, mich darauf einzulas-
    sen… Kannst du nicht wenigstens andeuten, was dann geschieht?«
    »Nun… du hast Bücher gelesen. Das erkennt man auf den ersten Blick.
    Bist du mit Büchern vertraut, in denen Kinder in ein magisches Reich
    geraten und Abenteuer mit Kobolden und so erleben?«
    »Ja, natürlich«, bestätigte Susanne grimmig.
    »Viel eicht wäre es angebracht, wenn du in solchen Bahnen denkst«,
    schlug der Rabe vor.
    Susanne griff nach einem Kräuterbündel und drehte es hin und her.
    »Draußen habe ich eine Frau gesehen, die behauptete, die Zahnfee zu
    sein«, sagte sie.
    »Es kann nicht die Zahnfee gewesen sein«, entgegnete der Rabe. »Es gibt mindestens drei.«

    »Solch eine Person existiert nicht. Ich meine… ich wußte nichts davon.
    Ich habe das al es für… eine Geschichte gehalten. So wie den Sandmann.
    Oder den Schneevater.«*
    »Ah«, machte der Rabe. »Jetzt ändert sich der Ton. Wir verzichten nun
    auf klare Aussagesätze. Aus ›Eine solche Person existiert nicht‹ wird ›Ich
    wußte es nicht‹.«
    »Es ist allgemein bekannt, daß… Ich meine, es kann wohl kaum lo-
    gisch sein, daß ein alter, bärtiger Mann am Silvesterabend Würstchen
    und Gekröse an die Leute verteilt.«
    »Von Logik weiß ich nichts«, sagte der Rabe. »Von Logik habe ich nie
    etwas erfahren. Es ist nicht sehr logisch, auf einem Totenschädel zu
    hocken, aber genau dort sitze ich.«
    »Und es kann keinen Sandmann geben, der von Haus zu Haus geht
    und den Kindern Sand in die Augen streut«, sagte Susanne. »Es… ist
    völ ig ausgeschlossen, daß ein Beutel genug Sand enthält.«
    »Vielleicht hast du recht. Tja, tja.«
    »Ich gehe jetzt besser«, meinte Susanne. »Um Mitternacht kontrolliert
    Frau Anstand die Schlafsäle.«

    * Vom Schneevater erzählt man sich vor al em auf dem Land beziehungsweise
    in jenen Regionen, wo Schweine eine wichtige Rolle in der lokalen Wirtschaft spielen. Die mythische Gestalt ist in der Neujahrsnacht unterwegs, mit einem einfachen Schlitten, der von vier Keilern gezogen wird. Brave Kinder bekommen von ihm Würstchen, Blutwurst, Innereien und Schinken. Offenbar findet
    er großen Gefallen daran, »Ho, ho, ho« zu sagen. Unartige Jungen und Mäd-
    chen erhalten von ihm einen Beutel mit blutigen Knochen (an solchen Details erkennt man sofort, daß die Geschichte für Kinder bestimmt ist). Es gibt ein Lied über ihn, das mit den Worten beginnt: Seid besser auf der Hut…
    Es heißt, die Legende des Schneevaters geht auf einen König zurück, der an
    einem Winterabend – ganz zufäl ig, wie er meinte – am Haus von drei jungen
    Frauen vorbeikam. Er hörte sie schluchzen, weil sie keine Speisen hatten, um das Silvesterfest zu feiern. Voller Mitgefühl warf er einen Sack mit Würstchen durchs Fenster.
    Er traf eine der jungen Frauen am Kopf. Sie trug eine mittelschwere Gehirn-
    erschütterung davon. Doch dieser Vorfall blieb in der Legende unerwähnt –
    warum eine gute Geschichte verderben?

    »Wie viele Schlafsäle gibt es?« fragte der Rabe.
    »Etwa dreißig.«
    »Du glaubst, daß Frau Anstand um Mitternacht alle Schlafsäle kontrolliert? Und du glaubst nicht an den Schneevater?«
    »Nun, ich sollte trotzdem zurückkehren«, sagte Susanne. »Äh… dan-
    ke.«
    »Schließ hinter dir ab, und wirf den Schlüssel durchs Fenster«, krächzte
    der Rabe.
    Nachdem das Mädchen gegangen war, herrschte Stille im Zimmer, nur
    unterbrochen vom leisen Knacken abkühlender Kohle in der Esse.
    »Die Jugend von heute«, meinte der Totenschädel

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