Rollende Steine
die Platte und verharrte dann wie-
der.
Das Mädchen versuchte nicht, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Eine
deutlich sichtbare Mulde in der ledernen Polsterung ließ erkennen, daß
jemand darin viel Zeit verbrachte.
Susannes Blick wanderte zu den Buchrücken. Seltsame, für sie völlig
unverständliche Zeichen bildeten die Titel der Bücher.
Sie kehrte in den fernen Flur zurück und schritt dort zur nächsten Tür.
Eine Ahnung regte sich in ihr.
Sie betrat einen weiteren großen Raum, der mit Regalen gefüllt war, die
vom Boden bis zur wolkenverhangenen Decke reichten. Zahllose Sand-
uhren reihten sich darin aneinander.
Sand rieselte von der Vergangenheit in die Zukunft. Es klang wie eine
Brandung – ein kollektives Geräusch aus einer Milliarde leiser Töne.
Susanne wanderte zwischen den Regalen umher und fühlte sich wie in
einer gewaltigen Menschenmenge.
Sie bemerkte eine Bewegung. In den meisten Fäl en bildete der rieseln-
de Sand eine dünne silberne Linie, doch in einem Stundenglas ver-
schwand diese gerade. Das letzte Sandkorn fiel in die untere Hälfte.
Mit einem leisen »Plop« verschwand die Sanduhr.
Kurz darauf, mit einem kaum hörbaren »Ping«, erschien eine neue.
Sand begann zu rieseln…
Susanne bemerkte, daß sich dieser Vorgang überal wiederholte. Dau-
ernd verschwanden alte Stundengläser, um durch neue ersetzt zu wer-
den.
Und sie wußte davon.
Langsam streckte sie die Hand aus, biß sich nachdenklich auf die Lip-
pen, ergriff eine Sanduhr und machte Anstalten, sie umzudrehen…
QUIEK!
Sie wandte sich um. Der Rattentod stand im Regal hinter ihr und hob
mahnend einen Finger.
»Schon gut«, sagte das Mädchen und stellte das Stundenglas wieder an
seinen Platz.
QUIEK.
»Nein. Ich habe mir noch nicht al es angesehen.«
Susanne ging weiter und hörte leises Trippeln, als ihr der Rattentod
folgte.
Der dritte Raum…
… erwies sich als Bad.
Susanne zögerte. In diesem Haus rechnete man mit Sanduhren. Es war auch nicht überraschend, überal das Totenschädel-und-Knochen-Motiv
zu sehen. Aber was man nicht erwartete, war eine große weiße Porzellan-wanne, die wie ein Thron auf einem Podest stand und an der große
Hähne aus glänzendem Messing angebracht waren. Über einem Kasten
an der Wand bildeten verblaßte blaue Buchstaben die Worte: C. H. Was-
serklosett & Sohn, Mumpitzstraße, Ankh-Morpork.
Auf dem Rand der Wanne lag eine gelbe Gummiente.
Und dann die Seife… Sie war angemessen knochenweiß, schien jedoch
noch nie benutzt worden zu sein. Daneben lag orangefarbene Seife, die
man zweifel os ziemlich oft benutzt hatte – kaum mehr als eine dünne
Scheibe war von ihr übrig. Sie roch wie das gräßliche Zeug im Internat.
Die Badewanne mochte erstaunlich groß sein, aber sie war eindeutig
ein Gegenstand aus der menschlichen Welt. Bräunliche Kratzspuren
umgaben den Abfluß, ein Fleck zeigte sich dort, wo ein Hahn getropft
hatte. Doch für die übrigen Dinge war die Person verantwortlich, die
sanitäre Einrichtungen offenbar ebenso wenig verstand wie Schreibti-
sche.
Den Handtuchhalter hätte eine ganze Sportmannschaft als Trainings-
gerät benutzen können. Die schwarzen Handtücher daran waren unlös-
bar mit ihm verbunden und sehr rauh. Wer auch immer das Bad auf-
suchte: Er gebrauchte vermutlich das weiß-blaue und schon recht abge-
nutzte Handtuch mit den Initialen F J M R F D B-U-S-G B-S, A-M.
Zu den Instal ationen gehörte auch eine Toilette – ein weiteres Beispiel
für C. H. Wasserklosetts Porzellankunst. Ein grünblaues Blumenmuster
zierte den Spülkasten. Die Toilette vermittelte denselben Eindruck wie
Badewanne und Seife: Jemand hatte dieses Zimmer geschaffen, und
dann war jemand anders gekommen, um Details hinzufügen. Jemand, der sich mit Installateurarbeiten besser auskannte. Jemand, der aus eigener
Erfahrung wußte, daß Handtücher weich sein und trocknend wirken
sol ten. Jemand, der Wert darauf legte, daß Seife Schaum erzeugte.
Nein, mit solchen Dingen rechnete man hier nicht. Bis man sie sah.
Und dann hatte man das Gefühl, sie zum erstenmal zu sehen.
Das abgenutzte Handtuch fiel zu Boden und blieb einige Sekunden in
Bewegung, bis der Rattentod darunter hervorkroch.
QUIEK?
»Na schön«, seufzte Susanne. »Wohin soll ich gehen?«
Das Rattenskelett eilte durch die offene Tür und verschwand im Kor-
ridor.
Susanne folgte ihm zu einer anderen Tür und drehte den Knauf.
Wieder sah sie ein Zimmer in einem
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