Rollende Steine
Platz, als der Alte an ihr vorbeihastete.
Schließlich blieb Albert stehen und hielt sich ein Auge zu. Dann drehte
er sich langsam um. Im sichtbaren Auge zeigte sich ein Glanz, der ver-
zweifelte Konzentration verriet.
Er spähte zum Stuhl, und das Auge tränte vor Anstrengung.
»Nicht schlecht«, sagte er leise. »Na schön. Du bist hier. Die Ratte und
das Pferd haben dich geholt. Sie glauben, die richtige Entscheidung ge-
troffen zu haben, aber da irren sie sich.«
»Welche Entscheidung?« fragte Susanne. »Und außerdem bin ich kei-
ne… Göre.«
Albert starrte sie groß an.
»Der Herr ist dazu imstande«, brummte er. »Bei ihm gehört das zum
Job. Vermutlich hast du schon vor einer ganzen Weile herausgefunden,
daß du es ebenfal s kannst. Ich meine, nicht bemerkt zu werden, wenn
du nicht bemerkt werden möchtest?«
QUIEK, sagte der Rattentod.
»Was?« fragte Albert.
QUIEK.
»Er läßt dir folgendes mitteilen«, sagte der Alte mürrisch. »›Göre‹ be-
deutet soviel wie ›Mädchen‹. Er glaubt, du könntest mich viel eicht falsch
verstanden haben.«
Susanne beugte sich ein wenig vor.
Albert zog einen anderen Stuhl heran und setzte sich ebenfal s.
»Wie alt bist du?«
»Sechzehn.«
»Meine Güte.« Albert rollte mit den Augen. »Seit wann bist du schon
sechzehn?«
»Seit ich fünfzehn gewesen bin, ist doch klar. Bist du dumm?«
»Ach, wie die Zeit vergeht«, sagte Albert. »Weißt du, warum du hier
bist?«
»Nein, aber…« Susanne zögerte. »Es hat bestimmt etwas zu tun mit…
Ich meine, viel eicht… äh… ich sehe Dinge, die andere Leute nicht se-
hen… Und dann die Sache mit den Totenschädeln und Knochen…«
Alberts langgliedrige, geierartige Gestalt ragte vor ihr auf.
»Möchtest du eine Tasse Kakao?« fragte er.
Gegen diesen Kakao war der im Internat nur heißes braunes Wasser.
In Alberts Kakao gab es Fett. Wenn man die Tasse umdrehte, dauerte es
eine Weile, bis etwas herausfiel.
»Deine Eltern…«, sagte Albert, als Susanne einen Kakao-Schnurrbart
hatte, für den sie viel zu jung wirkte. »Haben sie dir jemals etwas… er-
klärt?«
»Das hat Frau Delokus in Biologie versucht«, sagte Susanne. »Sie
brachte al es durcheinander«, fügte sie hinzu.
»Ich meine über deinen Großvater.«
»Ich erinnere mich an Dinge«, erwiderte Susanne. »Aber erst dann,
wenn ich sie sehe. So war’s beim Badezimmer – und auch bei dir.«
»Deine Mutter und dein Vater hielten es für besser, daß du vergißt«,
sagte Albert. »Ha! Es steckt in den Knochen! Deine Eltern fürchteten,
daß so etwas geschehen könnte, und nun ist es passiert. Du hast gewisse Eigenschaften geerbt.«
»Oh, darüber weiß ich Bescheid«, meinte Susanne. »Dabei geht’s um
Mäuse und Bohnen und so.«
Albert sah sie groß an.
»Ich versuche, es taktvol auszudrücken«, kündigte er an. »Dein Groß-
vater ist Tod«, erklärte Albert. »Du weißt schon… ein Skelett mit
schwarzem Kapuzenmantel. Du bist auf seinem Pferd geritten, auf dem
weißen Hengst, der dich hierherbrachte. Jetzt ist er fort. Nicht der
Hengst, sondern Tod. Um über Dinge zu meditieren, oder was weiß ich.
Und das hat dich hierhergesaugt. Weil es in den Knochen steckt. Du bist
alt genug. Ein Loch ist entstanden, und es glaubt, du hast die richtige
Form. Mir gefäl t das ebensowenig wie dir.«
»Tod«, murmelte Susanne. »Nun, ich kann nicht behaupten, nie etwas
geahnt zu haben. So wie Schneevater, Sandmann und Zahnfee?«
»Ja.«
QUIEK.
»Das sol ich wirklich glauben?« fragte Susanne und versuchte, in diese
Worte möglichst viel Verachtung zu legen.
Albert hielt ihrem durchdringenden Blick stand wie jemand, an dem
Verachtung völlig wirkungslos abprallt.
» Mir ist es völ ig schnuppe, was du glaubst oder nicht, junge Dame«, sagte er.
»Meinst du wirklich die große Gestalt mit der Sense und so?«
»Ja.«
»Jetzt hör mal, Albert…« Susanne sprach jetzt in dem Tonfal , den man
Einfältigen und Begriffsstutzigen gegenüber anschlägt. »Selbst wenn es
einen solchen Tod gäbe… und ich halte es für absurd, eine ganz natürli-
che Funktion zu anthropomorphisieren… kann man sicher nichts von
ihm erben. Mit Vererbung kenne ich mich aus; warum man rote Haare hat und so. Man bekommt sie von Menschen. Beziehungsweise von Leuten.
Nicht von… Mythen und Legenden… äh.«
Der Rattentod wandte sich dem Käsebrett zu, hob seine Sense und
schnitt ein Stück ab. Albert lehnte sich
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