Rom: Band 1
das einzuführen, was er für die Blüte Roms, das unnachahmliche Leben hielt.
Pierre mußte es annehmen, obwohl er einen einsamen Spaziergang vorgezogen hätte. Trotzdem interessirte ihn der junge Mann, der Letztgeborene einer erschöpften Rasse; er fühlte, daß er zum Denken und Handeln unfähig, aber in seinem Stolz und seiner Lässigkeit sehr verführerisch war. Viel mehr Römer als Patriot, hatte er niemals die geringste Anwandlung gehabt, sich zu ralliren; er war es zufrieden, abseits zu leben, nichts zu thun, und trotz seiner Leidenschaftlichkeit beging er keine Thorheiten, Er war im Grunde sehr praktisch, sehr vernünftig, wie alle in seiner Stadt es trotz ihres scheinbaren Ungestüms sind. Sobald der Wagen, nachdem er quer über die Piazza di Venezia gefahren, auf den Corso gelangt war, ließ er seine kindliche Eitelkeit, seine Liebe zu dem glücklichen und frohen Leben außerhalb des Hauses, unter dem schonen Himmel zum Durchbruch kommen. Das alles drückte sich ganz klar in der einfachen Geberde aus, mit der er sagte: »Der Corso!«
Pierre geriet so wie tags zuvor in Erstaunen. Abermals streckte sich die lange und schmale Straße bis zu der hell beleuchteten Piazza del Popolo hin, nur mit dem Unterschied, daß nun die Häuser rechts in der Sonne gebadet waren, während die links im Schatten lagen. Wie, das war der Corso! Dieser halbdunkle, zwischen hohen, schweren Fassaden erdrückte Graben! Diese elende Chaussee, wo höchstens drei Wagen in einer Reihe fahren können, die von dicht an einander gedrängten Läden mit ihrem Flitterkram begrenzt wurde! Kein freier Raum, weder ein weiter Horizont noch erfrischendes Grün! Nichts als ein Stoßen, Drängen, Ersticken längs der kleinen Trottoirs unter einem schmalen Streifen Himmel! Vergebens nannte Dario ihm die Namen der historischen, prunkvollen Paläste: Palazzo Bonaparte, Palazzo Doria, Palazzo Odescalchi, Palazzo Sciarra, Palazzo Chigi; vergebens zeigte er ihm die Piazza Colonna mit der Säule des Marc Aurel, den lebhaftesten Platz der Stadt, wo unaufhörlich eine plaudernde und schauende Menge umherstampft; vergebens machte er ihn bis zur Piazza del Popolo auf die Kirchen, die Häuser, die Querstraßen, die Via Condotti aufmerksam, an deren Ende S. Trinità, de Monti, lauter Gold, auf der Höhe der prunkenden Spanischen Treppe in der Pracht der untergehenden Sonne emporragte – Pierre blieb der enttäuschende Eindruck einer Straße ohne Breite und ohne Lust. Die Paläste erschienen ihm wie Hospitäler oder traurige Kasernen, der Piazza Colonna mangelte es gänzlich an Bäumen, nur S. Trinità de Monti hatte ihn durch seinen fernen Apotheosenglanz bezaubert.
Aber nun ging es von der Piazza del Popolo wieder zur Piazza di Venezia zurück, und wieder zurück, und wieder zurück – zwei-, drei-, viermal, unermüdlich. Dario war entzückt, zeigte sich, schaute umher, wurde gegrüßt und grüßte. Auf den beiden Trottoirs zog eine dicht gedrängte Menge vorüber, deren Augen in die Wagen tauchten, deren Hände die der darin Sitzenden hätten berühren können. Nach und nach nahm die Zahl der Wagen so zu, daß die ununterbrochene, an einander gedrängte Doppelreihe im Schritt fahren mußte. Bei diesem fortwährenden Aneinanderstreifen der Ein- und Aussteigenden konnte man sich berühren und genau betrachten. Das war ganz Rom, das sich im Freien durch einander mischte und sich auf dem möglichst kleinsten Raum zusammendrängte; da waren Leute, die sich kannten, die sich wie in der Vertraulichkeit eines Salons trafen. Leute, die nicht auf dem Gesprächsfuß mit einander standen, der entgegengesetztesten Gesellschaft angehörten, aber hier einander stießen und mit den Blicken bis in die Seele ausforschten. Nun ging Pierre das richtige Verständnis auf: er begriff den Corso, die uralte Gewohnheit, die Leidenschaft und den Stolz der Stadt. Ja, das Vergnügen lag gerade in dieser Enge der Straße, in dem gezwungenen Aufeinanderstoßen, das erwartete Begegnungen, die Befriedigung der Neugierde, die Schaustellung glücklicher Eitelkeit, das Sammeln endloser Klatschereien gestattete. Die gesamte Stadt sah sich hier täglich wieder, zeigte, belauerte sich, gab sich selbst ein Schauspiel; und das Bedürfnis, sich so zu sehen, wurde zuletzt so unentbehrlich, daß ein Mann aus guter Familie, der dem Corso fern blieb, für einen Wilden galt, der außerhalb seines Kreises, ohne Zeitungen dahinlebte. Dabei war die Luft so köstlich milde und der schmale Streifen Himmel
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