Rom - Band III
eine unbesiegbare Allmacht, eine außerordentliche Majestät an.
»O Gnade, heiliger Vater! Hören Eure Heiligkeit mich an! Strafen Eure Heiligkeit nicht einmal mich, strafen Eure Heiligkeit niemanden, o niemanden – kein Wesen, kein Ding, nichts, was auf Erden leiden kann. Seien Eure Heiligkeit gut, o zeigen Eure Heiligkeit die ganze Güte, die die Schmerzen der Welt in Ihr Herz gelegt haben müssen!«
Und als er sah, daß Leo XIII. noch immer schwieg und ihn vor sich stehen ließ, fiel er auf beide Kniee nieder, als breche er bestürzt unter der wachsenden Bewegung zusammen, die ihm das Herz so schwer machte. In seinem Wesen fand etwas wie ein Zusammenbruch der Masse aller Zweifel, aller Angst, aller Trauer statt, die ihn von neuem erstickte und nun in einer unwiderstehlichen Flut hervorbrach. Da war zuerst der schreckliche Tag, der so tragische Tod Darios und Benedettas, dessen Grauen wie ein bleischweres Gewicht auf seinem Herzen lag. Dann kam alles, was er gelitten hatte, seit er sich in Rom befand: die nach und nach zerstörten Illusionen, das verwundete, intimste Zartgefühl, die von der Wirklichkeit der Menschen und Dinge verhöhnte jugendliche Begeisterung. Dann kam, noch eindringlicher, das ganze Menschenelend selbst: die heulenden Hungernden, die Mütter mit den versiegten Brüsten, die schluchzend ihre Säuglinge küßten, die arbeitslosen Väter, die sich mit geballter Faust empörten, das fluchwürdige Elend, das so alt wie die Menschheit ist, an der es seit dem ersten Tage nagt. Ueberall hatte er es angetroffen – wachsend, verzehrend, furchterweckend, ohne jede Hoffnung auf Heilung. Und zuletzt kam, noch ungeheurer, noch unheilbarer, ein namenloser Schmerz, der keine genaue Ursache hatte, ein Schmerz um nichts und um niemand, ein allgemeiner unbegrenzter Schmerz, in dem er sich badete und mit Verzweiflung aufgehen fühlte. Vielleicht war es der Lebensschmerz.
»O, heiliger Vater, ich existire nicht, mein Buch existirt nicht. Ich sehnte mich, o leidenschaftlich, Eure Heiligkeit zu sehen, um Erklärungen zu geben, um mich zu verteidigen. Aber ich weiß nichts mehr, ich finde kein einziges der Worte mehr, die ich sagen wollte, ich habe nichts als Thränen, Thränen, die mich ersticken ... Ja, ich bin nur ein armer Mensch, ich empfinde nur das Bedürfnis, Eurer Heiligkeit von den Armen zu erzählen. O, die Armen, die Unglücklichen, die ich seit zwei Jahren in unseren so elenden und traurigen Pariser Vorstädten gesehen habe! Die armen Kleinen, die ich aus dem Schnee auflas, die armen kleinen Engel, die seit zwei Tagen nichts gegessen hatten, die Frauen, an denen die Schwindsucht nagte, die in der Tiefe unsauberer Löcher, ohne Brot, ohne Feuer hockten – die Männer, die die Arbeitseinstellung aufs Pflaster geworfen, die es satt haben, um Arbeit zu betteln, wie man um ein Almosen bettelt, die trunken vor Zorn in ihre finstern Nester zurückkehren, erfüllt von dem einzigen Rachegedanken, die Stadt an allen vier Ecken anzuzünden! Und der Abend, der schreckliche Abend, da ich in das Schreckensgemach einer Mutter trat, die sich eben mit ihren fünf Kleinen getötet hatte! Die Mutter war, ihr Neugeborenes säugend, auf den Strohsack niedergefallen; die zwei kleinen Mädchen, zwei hübsche Blondköpfe, schliefen gleichfalls dort ihren ewigen Schlaf; die beiden Knaben lagen tot etwas weiterhin – der eine neben der Mauer, der andere auf dem Boden, in einer letzten Auflehnung herumgeworfen ... O, heiliger Vater, ich bin nichts mehr als ihr Abgesandter, geschickt von denen, die leiden und schluchzen, der demütige Delegirte der im Elend, unter der fluchwürdigen Härte, der furchtbaren sozialen Ungerechtigkeit sterbenden Armen. Und ich bringe Eurer Heiligkeit ihre Thränen, ich lege Eurer Heiligkeit ihre Qualen zu Füßen, ich lasse Eure Heiligkeit ihren Notschrei hören. Es ist ein Schrei, der wie aus dem Abgrund empordringt; er fordert Gerechtigkeit, wenn man den Himmel nicht zusammenbrechen lassen will ... O, seien Eure Heiligkeit gut, seien Eure Heiligkeit gut!«
Er hatte die Arme ausgebreitet, er beschwor ihn mit der Geberde, mit der man das göttliche Erbarmen anruft. Dann fuhr er fort:
»Und, heiliger Vater, ist das Elend in diesem ewigen, strahlenden Rom nicht ebenfalls furchtbar? Seit Wochen irre ich, wartend, aufs Geratewohl durch den berühmten Staub seiner Ruinen und stoße mich fortwährend an unheilbaren Uebeln, die mich mit Schrecken erfüllt haben. Ach, alles bricht zusammen, alles
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