Rom kann sehr heiss sein
Wahrscheinlich war es diese gewisse Alterslosigkeit. Sie wirkte zugleich wie ein junges Mädchen und wie eine alte Frau. Ihre dichten lockigen Haare waren fast farblos, ihre Lippen bleich. Eigentlich war sie schön. Das Gesicht durchscheinend, brüchig fast, eine kostbare venezianische Maske. In einem früheren Jahrhundert hätte man Franziska Gala als »schöne Seele« bezeichnet. Dem derben Doktor Gala war anzumerken, wie stolz er auf seine ungleiche Ehehälfte war. »Kommen Sie doch heute Abend zu uns auf ein Weinchen«, sagte er. »Franziska wird sich sicher für Ihr Land interessieren. Sie liebt den Norden, vor allem die Dünen und Wälder der Ostsee. Effi Briest ist ihr Lieblingsbuch. Sie hat mindestens zwanzig Ausgaben davon. Natürlich auch die Erstausgabe.«
Während er redete, sah seine Frau auf ihre weißen, gepflegten Hände herab. Sie hatte sie auf den Schreibtisch vor sich gelegt, und ich bemerkte einen Ring an ihrer linken Hand – einen schönen großen goldfarbenen Topas. Ich war sprachlos über diese Entdeckung, beschloss jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. »Holland liegt aber leider an der Nordsee«, sagte ich stattdessen. »Auch wir haben eine Gegend, in der Dünen und Wälder eine faszinierende Mischung eingehen. Die Nationaldünen bei Alkmaar.«
»Franziska ist nicht nur meine Frau«, sagte Gala. »Sie ist auch meine liebste Kollegin. Unsere Büros liegen direkt nebeneinander. Wenn wir die Zwischentür auflassen, fühlen wir uns wie zu Hause.«
Franziska Gala schien mit ihren Gedanken überall zu sein, nur nicht hier bei uns. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin. Ich hatte das Gefühl, dass man sie auf keinen Fall direkt ansprechen durfte, ohne zu riskieren, dass sie vom Dachfirst ihrer Träume stürzen würde. Also wandte ich mich an ihren Mann.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Doktor Gala, dass Sie für mich ein Treffen mit dem Italienischlehrer arrangieren wollen, bei dem meine Freundin einen Kurs belegt hatte. Wie heißt er doch noch?«
»Marcello Tusa. Er stammt aus Rom. Ein sehr angenehmer Mensch. Sehr sauber, immer picobello angezogen. Wie die meisten Italiener. Soll ich für morgen Abend um acht eine Verabredung treffen? Am besten in den Brückenstuben, da, wo wir uns zum ersten Mal zu einem Essen trafen und wo sie Gudrun kennen gelernt haben. Es ist ein angenehmes Lokal. Die Küche ist ausgezeichnet, und die Weinkarte ist herausragend, wie Sie wissen, Doktor.«
»Aber morgen ist doch Heiligabend. Da wird Herr Tusa wohl kaum Zeit für mich haben oder in ein Lokal gehen wollen.«
»Sie irren sich. Herr Tusa gehört wie Sie zu den Weihnachtsexilanten. Er hat keine Familie, wie er sagt. Deshalb ist er auch nicht nach Hause gefahren. In den Brückenstuben treffen sich morgen viele solcher Menschen, die kein Zuhause haben und es sich dennoch gut gehen lassen wollen an diesem Tag. Doch heute Abend sind Sie bei uns zu Gast! Nicht wahr, Franziska, du wirst dein Lieblingsessen für uns kochen.«
Sie nickte. Gala fuhr fort: »Das tut sie nur, wenn sie Gefallen an einem Menschen gefunden hat.«
Ich warf Frau Gala einen hilflosen Blick zu. Sie lächelte in einer Mischung aus Bescheidenheit und königlicher Würde. Würde sie von mir erwarten, dass ich mich wie Effis Liebhaber verhielt? Doktor Gala erhob sich, und wir reichten uns die Hand. Franziska Gala sah aus dem Fenster. »Sie sind eher Crampas als von Instetten, nicht wahr, Doktor Hieronymus?«, sagte sie mit einem sehr melodischen Schweizer Akzent. Sie drehte den Kopf und blickte mich an. Ihre großen Augen ruhten sanft und ruhig auf mir. Die Intensität dieses Blickes war ungewöhnlich. War ihre Bemerkung eine versteckte Einladung zu einem Ehebruch? Ich musste zugeben, dass mir diese Vorstellung nicht unangenehm war.
Ich ging. Vor dem Büro der Galas war eine kleine Garderobe. Doktor Galas gelbe Lederjacke hing dort und ein Lodenmantel, der mir bekannt vorkam. »Sie hat kleine Füße«, dachte ich. »Schuhgröße 36. Wie Dale. Wie die Frau aus der Herrengasse.«
Und ich fragte mich, ob ich mich genauso getäuscht haben sollte wie die Berner, denen ich Dales Foto so ergebnislos gezeigt hatte. Ob ich in jener Nacht im Schein der glimmenden Zigarette Dale nur deshalb zu erkennen geglaubt hatte, weil ich sie hatte sehen wollen. Und ob es stattdessen nicht Franziska Gala gewesen war.
7. Puppenwelt
Das Klaustrophobische dieser Stadt hatte mich inzwischen voll im Griff. Es kam immer seltener vor, dass ich an Dale dachte oder
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