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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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gar an meine Mutter. Der eigentliche Zweck meines Hierseins verlor sich mehr und mehr, und betörende Bilder traten an seine Stelle. Ich saß wie paralysiert am Fenster, und mein Blick folgte dem Schweben der Schneeflocken. Bern war eine Insel am Ende der Welt. Die Aare floss im Kreis um die Altstadt, so wie der Styx die Schattenwelt der Toten umfloss. In rasender Strömung immer im Kreis herum. Abgrundtief und voller Ertrunkener, die vergeblich versucht hatten, den Styx ohne Genehmigung und ohne die Hilfe Charons zu queren. Doktor Gala war Hades, der Gott dieser Unterwelt. Franziska war Persephone, seine Frau, die auf Bitten ihrer Mutter zwei Drittel des Jahres in der Oberwelt verbringen durfte. Auch ich würde Gala um Erlaubnis fragen, Bern verlassen zu dürfen. Ich würde Franziska bitten, mich zu begleiten. Ich würde ihr die Dünen von Alkmaar zeigen. Der Wind würde ihren Chiffonschal wie ein Segel blähen und uns über den Styx davontragen.
    Gegen Abend spazierte ich die Münstergasse entlang, bis ich den richtigen Hauseingang fand. Ich klingelte. Ein freundliches »Salut« kam aus der Sprechanlage. Dann ging die Haustür auf. Das Treppenhaus war ein schmaler, steil nach oben führender Schlauch. Landschaftsstiche an den Wänden. Italienische Motive. Auf dem Läufer bemerkte ich große, dunkle Flecken, um die herum der Stoff aufgehellt war, als habe man mit einem scharfen Putzmittel versucht, den Schaden zu beheben.
    Franz Gala empfing mich am Treppenabsatz zu seiner Wohnung. Er strahlte mir voller Vorfreude und Menschenwärme von oben entgegen. Er schüttelte mit festem Druck meine Hand und legte mir dann leicht und fast zärtlich eine Hand auf die Schulter und geleitete mich so hinein. Der Wohnungsflur war überladen mit Bildern und Büchern. Franziska Gala kam mir entgegen und umarmte mich. Ich glaubte, ihren Herzschlag zu spüren, wie er ihren zarten Körper zum Schwingen brachte wie der Klöppel einer Glocke. Sie trug ein Hauskleid aus Seide, das der Silhouette ihres mageren Körpers fließende Bewegungen verlieh.
    Die Wohnung schien ähnlich gebaut wie die Berner Altstadt. Winklige Flure, die an Laubengänge erinnerten, kleine Zimmer, kaum Fenster nach draußen. Franziska entschwebte in die Küche, in der es aus verschiedenen Töpfen dampfte und brodelte. Der Gastgeber bot mir ein Glas Prosecco an. Es war beschlagen, so kühl war das Getränk. Seine Frau hantierte am Herd. »Zeig dem Doktor meine Bücher«, rief sie.
    Ich fühlte mich geborgen auf eine nie gekannte Weise in dieser überhitzten Welt. Franz Gala, braun gebrannt wie ein Skilehrer, mit seinem offenen weißen Hemd, seiner legeren Leinenhose, seinen edlen Lederpantoffeln, rauchte eine Pfeife und deutete mit dem Stiel auf ein Regal im Flur, das offenbar fast nur Bücher Theodor Fontanes enthielt. »Sie ist schon ein bisschen närrisch, die Gute«, kommentierte er. »Gewiss ein sehr gutes Buch, die Effi Briest, man könnte sagen, ein Frauenroman, von einem Mann verfasst. Es gibt in der Weltliteratur nur ein einziges Pendant, wie Sie sicher wissen. Madame Bovary von Flaubert. Meine Frau zieht die Effi vor. Vielleicht liegt es daran, dass Franziska als kleines Mädchen gerne geschaukelt hat.« Er zwinkerte mir mit verschwörerischer Miene zu. Merkwürdig, dachte ich, wie distanziert er von seiner Frau spricht!
    Der Gastgeber öffnete die Tür zu einem Zimmer und forderte mich mit einer ausholenden Bewegung auf, es zu betreten. Es war unverkennbar ein Mädchenzimmer. Hier war die Temperatur noch höher als in der übrigen Wohnung. Es war fast unerträglich heiß. An den beschlagenen Scheiben rannen Wassersträhnen herab. Gala schloss die Tür leise. Geheimnisvolle Dämmerung umfing uns. Das wenige Licht kam aus versteckten Quellen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, nicht allein zu sein. Nicht Galas dezente Nähe vermittelte dieses Gefühl, sondern, wie ich mit einer Drehung meines Kopfes registrierte, die Anwesenheit von zahllosen Gestalten, die sich überall in den Regalen, auf den Sitzgelegenheiten, dem Sofa, in den Ecken und auf den Fensterbänken drängten. Sie starrten mich aus schimmernden Augen an, starre Blicke, offene Münder, perlweiße Zähne, rotbäckige, fahle, braune, blonde, schwarzhaarige Wesen, die kurzen Arme ausgebreitet, manche sitzend, andere stehend, einige liegend, manche nackt, die meisten bekleidet, in rosafarbenen Rüschenkleidern, strengen Kostümen, allesamt weiblich. Nein, es gab auch solche, wo dies nicht feststand,

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