Roman
ich so weit bin, taucht ein Streifenwagen auf und fährt langsam vorbei, so langsam wie ein Hai, der auf Beute aus ist. Die Polizei hat hier wenig zu tun, außer sich ab und zu um Ruhestörungen und betrunkene Studenten zu kümmern. Ihre Anwesenheit ist deshalb eher lästig als beruhigend.
»Was warst du denn, bevor du ein Vampir- DJ wurdest?«
»Etwas, das sehr viel monströser war. Ich war Hochzeits- DJ .« Er zieht seine Brieftasche aus der Jeans und drückt mir eine ramponierte Visitenkarte in die Hand.
MCALLISTER MUSIC , YOUNGSTOWN , OHIO . Aha, war mir doch gleich so, als hätte ich einen leichten Nordost-Ohio-Akzent wahrgenommen, Pittsburgh wahrscheinlich.
»Hörst du denn immer noch den schönen Hochzeitswalzer im Schlaf?«
»Eigentlich galt ich als ein DJ für coole Paare. Sie wussten, dass ich auflegen würde, was sie sich wünschten und nicht ihre Eltern.«
Ich drehe die Karte um. In kleinen Blockbuchstaben steht dort: KEIN ENTENTANZ .
»Das Problem war nur«, fährt Shane fort, »dass normalerweise die Eltern für die Hochzeiten zahlen. Also hatte ich schon bald den Ruf, schwierig zu sein.«
»Ich kann mir dich nicht im Smoking vorstellen.«
»Ich auch nicht – was nicht gerade hilfreich war.«
Wir unterbrechen unseren Spaziergang, um uns vor der Stadtbibliothek auf eine Bank zu setzen. Dort gibt es von Hecken und Bäumen gesäumte Kieswege, also so etwas wie einen kleinen Park. Tagsüber hängen hier Obdachlose herum, weil das Asylheim dann geschlossen hat. Aber um diese Uhrzeit ist der Park wie leergefegt.
»Was hat es eigentlich mit diesen Junggesellinnen-Abschieden auf sich?«, fragt Shane.
»Du meinst, warum verwandeln sich ansonsten sittsame Frauen plötzlich in sexwütige Flittchen? Weil das ihre letzte Gelegenheit ist, sich noch einmal schlecht zu benehmen und ganz böse Mädels zu sein – nun, für manche ist es auch die erste Gelegenheit.«
Shane brummt skeptisch. »Ich habe die Selbstverliebtheit, in der Bräute schwelgen, aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel betrachtet. Meine Schwester beispielsweise hat meinen Vater dazu gebracht, eine dritte Hypothek aufs Haus zu nehmen, nur damit er ihr eine genauso große Hochzeit ausrichten konnte, wie all ihre reichen College-Freundinnen sie gehabt hatten. Das war ziemlich abgefahren, weil sie ansonsten jemand war, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand.«
Ich bleibe an der Zeitform des Verbs hängen. »Stand? Was heißt das? Ist sie noch … ähm, unter uns?«
»Oh ja, sie ist quicklebendig, wenn du das meinst.« Er fingert an der Falz der Papiertüte herum, in der unsere Einkäufe aus dem Spirituosen-Laden sind. »Ich habe nur keinen Kontakt mehr zu ihr.«
Ich lasse ihm einen Moment Zeit in der Hoffnung, er würde etwas ausführlicher. Doch danach steht ihm anscheinend nicht der Sinn. »Lebt deine Familie denn noch in Youngstown?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Aber du hast keinen Kontakt mehr zu ihr.«
Er stützt einen Ellbogen auf die Rückenlehne der Bank. »Ich hätte eine Erklärung dafür, aber du wirst nur darüber lachen.«
»Wieder die Vampir-Geschichte, oder?«
Er stellt die Tüte mit dem Bier ab und blickt mir direkt in die Augen. Der Baum neben unserer Bank wirft seinen Schatten genau dorthin, wo Shane sitzt. Aber Shanes leuchtend hellblaue Augen scheinen sich geradezu in meine hineinzubrennen. Ich erinnere mich daran, dass dem Blick eines Vampirs eine gewisse Macht zugesprochen wird.
Jetzt wegzuschauen würde mich als abergläubisch outen. Also tue ich es nicht. Ich erwidere den Blick, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, und fordere Shane so heraus. Er starrt mich weiter an.
»Ich weiß ja nicht, was du glaubst zu …« Meine Stimme versagt. Ich vergesse, was ich eben sagen wollte. Es ist auch völlig egal. Nach und nach werden all meine Muskeln im Gesicht schlaff, und die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich will auch gar nichts dagegen tun. Ich möchte einfach nur für immer hier auf dieser Bank sitzen.
Shane beugt sich vor und bringt sein Gesicht ganz nah an meines. Meine Haut wird ganz heiß; meine Hand langt nach dem Saum seines Hemdes, um ihn näher zu mir heranzuziehen.
»Es kommt jemand!«, flüstert er mir zu.
»Da ist sie!«, kreischt eine Person hinter mir.
Ich blinzle heftig, drehe mich um und sehe Jolene und ihre Rotte zukünftiger Brautjungfern. Sie gehen schnellen Schrittes mitten auf der verlassenen Straße und sind bereits in Formation:
Weitere Kostenlose Bücher