Roman
sich heran. Ich recke das Kinn hoch, und der Kuss schmeckt süß, verspricht mehr, als er fordert. Shanes Lippen schmecken nach Minze, allerdings mit einem leicht metallischen Beigeschmack.
Der Kuss endet zur richtigen Zeit. Keiner von uns beiden sagt noch etwas. Ich gehe ins Haus, betrete meine Wohnung und gehe ins Bett. Allein.
Lange bevor es fünf Uhr fünfundvierzig ist, wache ich auf. Um ehrlich zu sein, liege ich seit drei Uhr wach und höre mir Shanes Sendung Whatever an. Ein Grunger, der dem Britpop zugetan ist. Denn zu meiner Überraschung ist es nicht nur Grunge, den Shane spielt – auch wenn der Grunge absolut überrepräsentiert ist. Aber es finden sich auch Titel aus dem Indie und Alternative Rock in seiner Playlist, munter-fetziger kalifornischer Punk Rock ist vertreten und sogar ein bisschen Alternative Country. Der gemeinsame Nenner scheint das fast schon prätentiöse Fehlen alles Prätentiösen zu sein.
Sobald Shanes Stimme zu hören ist, schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie er hier neben mir liegt. Er erzählt mir etwas, in diesem selbstverständlichen, leisen und sanften Tonfall. Er macht keine großen Worte, ergeht sich nicht in Zweideutigkeiten, mit denen er verführen will. Er erzählt einfach, was ihm so in den Sinn kommt, beispielsweise Faszinierendes aus dem Leben von Nick Drake oder mir Unbekanntes über die B-3-Hammond-Orgel. Shanes Atem spielt mit meinem Haar, kitzelt an meinem Ohrläppchen. Trotzdem hebe ich nicht die Hand und gehe dazwischen, weil Shane mir die Hand hält. Unsere Arme, miteinander verflochten, liegen oben auf der Bettdecke.
Ich öffne die Augen. Wow, Mädchenfantasien von Lovern, wie ich sie seit meiner Teenie-Zeit nicht mehr gehabt habe! Es ist ja eine Sache, sich Shane vorzustellen, nackt, sein Körper glänzend von verschwenderisch aufgetragenem Olivenöl, aber etwas ganz anderes, sich auszumalen, wie wir kuscheln.
Ich rolle mich auf den Rücken und sage zur Zimmerdecke: »Er ist kein Mensch.« Die Decke starrt zurück, bleibt mir aber eine Antwort schuldig.
Es wird fünf Uhr vierundfünfzig. Ich erwarte, dass Shane die Sendung mit einem Song beendet, der der modernen Gesellschaft einen Tritt in den Arsch und einen Stoß in die Rippen wegen ihrer Kommerzgeilheit versetzt – die ich so rücksichtslos vertrete.
»Zeit für mich, mich wieder in meine Höhle zu verkriechen«, höre ich Shane sagen. »Ich verabschiede mich von euch mit diesem letzten Song, der euch bei eurem Start in den Tag begleiten soll – oder dabei, den Tag zu beenden, je nachdem. Kaum einer da draußen weiß, dass Otis Redding diesen Song geschrieben hat. The Dead haben ihn gecovert, aber das hier ist wohl die bekannteste aller Versionen und, wie ich glaube, die, die einen vor allen anderen einfach krass umhaut. Euch einen guten Morgen, und gute Nacht.«
Nach einem kurzen Schlagzeug-Intro gesellt sich Bassgitarre zu Piano; eine Melodie mit ganz viel Blues darin.
Ich muss lachen und ziehe mir das Kissen übers Gesicht. Dabei frage ich mich, ob der Titel Hard to Handle von den Black Crowes sich wohl auf mich oder auf Shane beziehen soll.
Möglicherweise sind wir beide gemeint, was noch viel lustiger wäre.
10
Just a Girl
7. Juni
Wir starten unsere Mission, die Welt zu erschüttern. Ich schreibe Pressemitteilungen, nehme eine neue Webdesignerin unter Vertrag und bestelle WVMP -Merchandise. Franklin verteilt die Aufgaben neu: Er ist von jetzt an für Vertrieb, ich für Vermarktung und Promotion zuständig. Ich bin begeistert. Fürs Marketing verantwortlich zu sein bringt mich auf Armeslänge an meine eigentlichen beruflichen Ziele heran – und es fühlt sich besser an als das Überreden im Verkauf. Im Übrigen ist was das angeht Mr. Hyde der absolute Meister in seinem Fach.
Die genähte Wunde an meinem Schenkel juckt wie verrückt. Es sind einige Gänge aufs Klo nötig, damit ich mich reuelos und ausgiebig kratzen kann.
12. Juni
David zieht die Fäden und kauft mir noch mehr Bagels.
13. Juni
Ich feuere die Webdesignerin.
14. Juni
Ich entwerfe Flyer und engagiere einen neuen Webdesigner, einen, der nicht der Überzeugung ist, sich drehende Logos und lahme Flash-Animationen wären immer noch up to date. Spitzentechnologie, dass ich nicht lache! Wäre ich unserer bisherigen Webdesignerin nicht bei Tag begegnet, hätte ich Stein und Bein geschworen, sie sei ein Vampir.
15. Juni
Freitagabend schlendere ich in die Lounge, wo ich auf Shane, Regina, Spencer und Noah treffe,
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