Roman
Notizbuch auf dem Nachttisch und nehme es in die Hand.
Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass ich angefangen habe, die Liste zu schreiben. Selbst die Handschrift sieht an manchen Stellen anders aus. (Das wilde Gekritzel eines verstörten Kontrollfreaks vielleicht?)
Ich liege auf meinem Bett, lausche dem leisen Babygeschrei irgendwo in der Ferne und fange an zu lesen. Erst da wird mir klar, dass ich lächle, das wissende, ein bisschen peinlich berührte Lächeln eines Erwachsenen, der die Tagebucheintragungen aus seiner Jugend liest.
Etwas mit Quinoa kochen.
Die Fotoalben sortieren (Fotoecken kaufen).
Den tropfenden Wasserhahn reparieren …
Es ist, als würden mir nicht nur die dummen Aufgaben wieder einfallen, die ich mir selbst aufgetragen habe, sondern auch die damit verbundenen Erinnerungen. Ich erinnere mich an das Quinoa-Essen, daran, wie mir die harten kleinen Kügelchen im Hals stecken geblieben sind, an die schreckliche Angst bei dem Gedanken, zu diesem Grillabend gehen zu müssen, und an den verzweifelten Wunsch, dass Lexi mitkommt. Ich wollte sie an jenem Tag als menschlichen Schild, und genau das war sie auch, ich war nur so sehr mit meiner in Alkohol getränkten Peinlichkeit beschäftigt, dass es mir nicht mal aufgefallen ist. Den tropfenden Wasserhahn reparieren … Ich erinnere mich auch an den Tag, daran, wie die Sonne durch das Küchenfenster schien, wie Martins Maurer-Dekolleté unter dem Waschbecken hervorlugte und wie unwohl ich mich fühlte, weil er in meinem Haus war – das einmal unser Haus gewesen war – und mir half.
Es klopft an meiner Tür, und ich höre Lexis leise Stimme.
»Hi. Kann ich reinkommen?«
Sie öffnet die Tür. Sie sieht aus, als wenn sie von den Ereignissen des gestrigen Tages erschöpft wäre. In ihrem Herzchen-Pyjama setzt sie sich auf mein Bett und lächelt mich an.
»Was machst du?«, fragt sie.
Ich schließe das Notizbuch.
»Oh, ich lese nur diesen Unsinn«, antworte ich. »Ist völlig unwichtig.«
»Komm schon«, bittet sie. »Was ist das? Kann ich es sehen?«
»Es ist meine Liste mit den Dingen, die ich noch erledigen muss«, erkläre ich. »Meine brillante Liste!«
»Lies vor«, verlangt sie. »Mach schon, das interessiert mich.«
»Okay«, stimme ich zu. »Versprichst du, nicht zu lachen?«
Sie verspricht es, und ich lese Teile davon laut – und es fühlt sich lächerlicher an als jemals zuvor.
»Etwas mit Quinoa kochen.«
Sie grinst.
»Ey!«, rufe ich. »Du hast versprochen, nicht zu lachen.«
»Das war wirklich widerlich«, erklärt sie, »absolut ekelerregend. Was steht da noch? Komm schon, das ist lustig!«
»Zu Kulturveranstaltungen gehen …«
»Was, Bilder von Erde angucken?«
»Ja, genau das. Fotoecken kaufen«, lese ich weiter.
»Ich kann nicht glauben, dass du Listen mit so einem Zeug schreibst.«
Dann, ohne ersichtlichen Grund, fange ich an zu weinen.
»Was ist los?«, fragt sie.
»Oh, ich weiß nicht, ich habe es einfach vermasselt. Weißt du, ich habe letztens die Fotos sortiert und musste weinen.«
»Aber warum?«, fragt sie, und ich lehne meinen Kopf an ihren.
»Weil da so viele Fotos von uns waren, Lex – du als Baby, ich als launischer Teenager –, und mir ist klar geworden, dass ich so viel Zeit vergeudet habe. Ich hätte dich lieben sollen, meine süße kleine Schwester, aber ich habe dich abgelehnt, ich habe mir gewünscht, du wärst nicht da.«
Sie sieht mich mit großen Augen an. »Du mochtest mich nicht?«, fragt sie. »Aber das habe ich nie gemerkt, Caroline, nie, nicht ein Mal.«
»Wirklich nicht?«, entgegne ich ungläubig. »Das ist dir nie aufgefallen?«
»Ehrlich nicht«, versichert sie. »Wenn du mich wirklich nicht mochtest, dann ist es dir sehr erfolgreich gelungen, das zu verheimlichen.«
Wir liegen auf meinem Bett und schweigen für eine Weile, dann sagt sie: »Ich habe eine Idee.«
»Oh Gott!«, stöhne ich. »Wird sie mir gefallen?«
»Machen wir eine neue Liste, eine neue Hauptliste. Für mich hast du schon eine gemacht, und jetzt bist du dran.«
Ich reiße eine A4-Seite aus dem Buch neben mir, und dann sitzen wir auf dem Bett und schreiben eine neue Liste – dieses Mal Lexis Liste für mich. Sie schreibt, während ich dasitze und mit dem Kopf nicke, in ihrer fetten Teenagerschrift mit den Kreisen auf den Is:
1. Lass Martin gehen, und hör auf, ihm Hoffnungen zu machen. Entschuldige dich bei ihm dafür, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, dass du, Caroline Steele, es warst,
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