Roman eines Schicksallosen (German Edition)
aufgewühlten Magen; aber das war nun einmal mein Eindruck, und im Grunde genommen – so stellte ich es mir wenigstens vor – konnte es auch gar nicht sehr viel anders vor sich gegangen sein. Schließlich setzte man sich wahrscheinlich auch hier gemeinsam an einen Tisch, steckte sozusagen die Köpfe zusammen, auch wenn es nicht gerade Studenten waren, versteht sich, sondern gestandene erwachsene Männer, vielleicht auch, ja höchstwahrscheinlich, wenn ich es recht überlegte, Herren, in würdigem Anzug, Zigarren im Mund, Orden auf der Brust, alles sicher Befehlshaber, die nicht gestört sein wollen – so stellte ich es mir vor. Einer kommt dann auf die Idee mit dem Gas, ein anderer dann gleich auf die Idee mit dem Bad, ein Dritter auf die mit der Seife, ein Vierter wiederum fügt die Blumen hinzu und so weiter. Ein paar Ideen hatten sie vielleicht etwas länger diskutiert, länger daran herumgefeilt, andere dagegen gleich freudig aufgenommen, waren von ihren Sitzen hochgeschnellt (ich weiß nicht, warum mir das wichtig war, aber sie schnellten hoch) und hatten sich an den Händen gefasst – all das ließ sich lebhaft vorstellen, zumindest was mich angeht. Die Ideen der Befehlshaber werden dann mittels vieler emsiger Hände, eifriger Betriebsamkeit verwirklicht, und am Erfolg der Darbietung, das sah ich wohl, konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Also war es ganz gewiss der alten Frau so ergangen, die am Bahnhof ihrem Sohn gehorcht hatte, und auch dem weißbeschuhten kleinen Jungen und seiner blonden Mama, dem stattlichen Weib, dem alten Herrn mit dem schwarzen Hut oder dem Nervenkranken, der vor den Arzt hingetreten war. Auch der «Experte» kam mir in den Sinn: Er war ganz bestimmt sehr verblüfft gewesen, der Arme. Und «Rosi» sagte dann mit bedauerndem Kopfschütteln: «Der arme Moskovics», und wir waren alle einer Meinung mit ihm. Und der «Halbseidene» schrie auf: «Jesus Maria!» Wie wir nämlich von ihm erfuhren, war die Vermutung der Jungen richtig gewesen: Zwischen ihm und dem erwähnten Mädchen aus der Ziegelei war tatsächlich «alles passiert», und jetzt dachte er an die möglichen Folgen, die mit der Zeit eventuell sichtbar würden. Die Besorgnis, da pflichteten wir ihm bei, bestand zu Recht, aber auf seinem Gesicht war außer der Sorge noch irgendetwas anderes zu sehen, der Ausdruck eines schon schwerer zu bestimmenden Gefühls, und die Jungen blickten in diesem Moment auch eher mit einer Art Achtung auf ihn, was mir leichtfiel zu verstehen, natürlich.
Noch etwas anderes hat mir an diesem Tag einigermaßen zu denken gegeben: die Tatsache nämlich, dass dieser Ort – wie ich erfuhr –, diese Einrichtung, schon seit Jahren hier existierte, vorhanden war, funktionierte, Tag für Tag auf gleiche Weise, und gewissermaßen – ich sah zwar ein, dass dieser Gedanke etwas übertrieben sein mochte, aber doch: schon auf mich gewartet hatte. Auf jeden Fall – so erwähnten es gleich mehrere mit einer eigentümlichen, sozusagen schaudernden Hochachtung – war unser Blockkommandant schon vor vier Jahren hierhergekommen. Mir fiel ein, dass jenes Jahr auch für mich ziemlich bedeutsam gewesen war, denn damals war ich gerade ins Gymnasium eingetreten. Ich erinnerte mich noch sehr gut an die Eröffnungsfeier – ich selbst hatte in einem dunkelblauen, schnurbesetzten Ungarnanzug teilgenommen, der sogenannten Bocskaer-Tracht. Ich habe mir auch die Worte des Direktors gemerkt – eines würdigen Mannes mit gestrenger Brille und einem schönen weißen Schnurrbart, der, wenn ich es nun im Nachhinein bedachte, auch ein bisschen etwas von einem Kommandeur hatte. Zum Schluss, so erinnere ich mich, hatte er sich auf einen Weisen der Antike berufen: «Non scolae, sed vitae discimus – Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir», zitierte er. Dann hätte ich jedoch, das war meine Ansicht, die ganze Zeit ausschließlich für Auschwitz lernen müssen. Es wäre alles erklärt worden, offen, ehrlich, vernünftig. Bloß hatte ich während der ganzen vier Jahre in der Schule kein einziges Wort davon gehört. Aber ich sah natürlich ein, dass die Sache peinlich gewesen wäre, ja und dann gehört es auch nicht zur Allgemeinbildung, ich musste es zugeben. Das hatte dann den Nachteil, dass ich mich erst hier belehren lassen musste, zum Beispiel darüber, dass wir uns in einem «Konzentrationslager» befanden. Aber auch die seien nicht alle gleich, so wurde erklärt. Das hier zum Beispiel sei ein
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