Roman eines Schicksallosen (German Edition)
darüber nachdachte – zusammenfassen, gewissermaßen vor mir abrollen lassen konnte, sondern nur Stufe um Stufe und indem ich mich an jede Stufe immer wieder einzeln gewöhnte – und so habe ich dann eigentlich doch nichts wahrgenommen. Und dabei hatte ich mich offenbar selbst auch verändert, denn der «Zierlederer», den ich eines Tages ganz lässig aus dem Küchenzelt treten sah – und ich vernahm dann auch, dass er sich eine Einteilung zu diesen beneidenswerten Honoratioren, den Kartoffelschälern, ergattert hatte –, wollte mich zunächst gar nicht erkennen. Ich musste ihm eine Weile versichern, dass ich es sei, aus der «Shell», und ich fragte ihn, ob sich da, also in der Küche, nicht wahr, zufällig vielleicht irgendetwas zu beißen finden ließe, vielleicht irgendwelche Reste, eventuell etwas vom Kesselboden. Er sagte, er würde nachschauen, und er selbst habe zwar keine Wünsche, aber ob ich nicht zufällig Zigaretten hätte, der Vorarbeiter in der Küche sei «ganz verrückt auf Zigaretten», so sagte er. Ich musste gestehen, dass ich keine hatte, und da ist er weggegangen. Ich habe dann bald eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, länger auf ihn zu warten, und dass anscheinend auch Freundschaft nur etwas Begrenztes ist, etwas, dem das Gesetz des Lebens einmal ein Ende setzt – natürlicherweise übrigens, ganz klar. Ein andermal war ich es dann, der ein seltsames Wesen nicht wiedererkannte: Es stolperte da vorbei, vermutlich gerade auf dem Weg zur Latrine. Die Mütze war ihm bis über die Ohren hinuntergerutscht, sein Gesicht voller Kerben, Ecken und Kanten, die Nase gelb, an ihrer Spitze ein zitternder Tropfen. «Halbseidener», rief ich hinüber: Er sah nicht einmal auf. Er schlurfte bloß weiter, wobei er sich mit einer Hand die Hose festhielt, und ich dachte: Also wirklich, das hätte ich auch nie geglaubt. Wieder ein andermal war da einer, noch gelber, noch magerer, mit noch größeren und fiebrigeren Augen, es muss, so glaube ich, der Raucher gewesen sein, den ich da bemerkt habe. Um diese Zeit tauchte beim Abend- und Morgenappell in der Meldung des Blockältesten eine neue Wendung auf, die später zu einer ständigen wurde, nur hinsichtlich der Ziffern abgewandelt: «Zwei im Revier» oder «Fünf im Revier» , «Dreizehn im Revier» und so weiter, und dann ein neuer Begriff, nämlich «Abgang» . Nein, unter gewissen Umständen ist auch der beste Wille nicht genug. Ich hatte zu Hause gelesen, mit der Zeit, freilich mit der erforderlichen Anstrengung, könne man sich sogar an die Gefangenschaft gewöhnen. Und das mag sogar stimmen, zweifellos, zu Hause etwa, in einem regelrechten, einem anständigen, so einem zivilen Gefängnis, oder wie ich es nennen soll. Nur bietet sich dafür eben, nach meiner Erfahrung, in einem Konzentrationslager nicht recht Gelegenheit. Und ich kann sagen, es hat jedenfalls – bei mir – nicht an Bemühung, nicht an gutem Willen gemangelt: Das Problem ist, dass sie einem dafür zu wenig Zeit lassen, ganz einfach.
Ich weiß – nach dem, was ich gesehen, gehört oder erfahren habe – von drei Arten und Wegen, einem Konzentrationslager zu entkommen. Ich selbst lebte mit der ersten und, von mir aus, bescheidensten Möglichkeit – doch nun: Es gibt Bereiche unserer Natur, die ihr, so hatte ich es auch gelernt, ein für allemal unveräußerlich angehören. Tatsache ist: Unser Vorstellungsvermögen bleibt auch in der Gefangenschaft frei. Ich brachte es zum Beispiel so weit, während meine Hände mit Schaufel oder Hacke beschäftigt waren – mit sparsam eingeteilten, stets nur auf das Allernotwendigste beschränkten Bewegungen –, einfach gar nicht zugegen zu sein. Aber auch die Phantasie ist nicht völlig unbegrenzt, zumindest gibt es da – wie ich erfahren habe – Schranken. Denn eigentlich hätte ich ja mit der gleichen Anstrengung überall sein können, in Kalkutta, in Florida, an den schönsten Orten der Welt. Und doch, das war nicht ernst genug, ich vermochte – um es so zu sagen – nicht daran zu glauben, und so fand ich mich dann meistens einfach zu Hause wieder. Ja, natürlich, auch das war nicht weniger tollkühn, als wenn ich mich zum Beispiel nach Kalkutta versetzt hätte; nur konnte ich darin doch etwas finden, eine gewisse Bescheidenheit, sozusagen eine Art Arbeit, die meine Anstrengung sofort richtig machte und damit irgendwie beglaubigte. Zum Beispiel wurde mir bald klar, dass ich zu Hause nicht richtig gelebt, meine Tage nicht richtig genutzt
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