Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Bearbeitungen Ruhi Sus.
Mit Feuereifer machte ich mich an die Arbeit und erkannte schon bald, auf was ich mich eingelassen hatte. Die Gedichte Nâzıms waren nämlich zum großen Teil in freien Rhythmen geschrieben und passten damit in keines der üblichen Liedschemata. Von ihren Gefühlsinhalten her stimmten sie mit keiner der traditionellen Formen der türkischen Volksmusik überein und waren doch von ihnen beeinflusst.
Schließlich versuchte ich mich von all dem freizumachen und nur auf die innere Musik jener Gedichte zu lauschen. Was mir allmählich am angemessensten vorkam, war die Balladenform. Jeden Tag ging ich in den verschneiten Wald hinaus und dachte dort stundenlang nach. Wenn ich danach die Melodien, die mir im Kopf herumschwirrten, zu Papier brachte, gefielen sie mir gleich nicht mehr, und ich verwarf sie wieder. Bis in meine Träume hinein kämpfte ich mit Rhythmen und Tonarten und suchte nach Motiven, die zu den Gedichten passten. Am wichtigsten war es, erst einmal einen eigenen Stil zu finden, dann würde auf dem solchermaßen verlegten Gleis der Zug allmählich Fahrt aufnehmen können. Ob ich nun ein einziges Gedicht vertonte oder zwanzig, darin bestand kein allzu großer Unterschied.
Eines Nachts wälzte ich mich im Bett hin und her und tat kein Auge zu. Am Morgen griff ich sofort zur Saz und probierte etwas aus. Dann sagte ich zu Ülker: »Pass auf, ich spiele dir etwas vor.« Zu so früher Stunde mochte das merkwürdig erscheinen, aber Ülker war dergleichen gewöhnt und hörte einfach zu. Als ich fertig war, sagte sie: »Das war wirklich schön. Spiel es noch mal.«
Das tat ich und sang dazu:
Im verschneiten Birkenwäldchen
Gehe ich des Nachts dahin,
Bin so traurig, bin so traurig.
Ach wo ist nur deine Hand?
Ab dann kam ich rasch vorwärts und schickte Maria Farantouri Lied um Lied. Etwa zur gleichen Zeit vollendete ich auch meinen ersten Erzählband, der bei Yaşar Kemal und Thilda großen Anklang fand.
I n der Türkei herrscht über die Beziehungen zwischen Politik und Kunst seit jeher eine falsche Auffassung. Wer Politik betreibt, teilt Künstler gerne in zwei Kategorien ein, nämlich in bloße Unterhalter und in politisch Engagierte, die man für die eigenen Zwecke einspannen kann. Bei Letzteren wird jedes Gedicht als Manifest, jedes Lied als Statement und jeder Roman als politische Analyse interpretiert.
Durch meine in Belgien veröffentlichte Platte mit den Traueroden auf gepeinigte und ermordete Studenten war ich ins Räderwerk politischer Diskussionen hineingeraten. Manche Organisationen stellten sich hinter mich, anderen war ich ein Dorn im Auge.
Was das bedeutete, wurde mir am drastischsten in Berlin vor Augen geführt, als ich dort bei einem Festival hinter der Bühne auf meinen Auftritt wartete. In meiner Nähe standen Türken herum, die mich feindselig musterten und sich immer wieder etwas zuflüsterten. Dass sie mich nicht einmal gegrüßt hatten, war mir schon merkwürdig vorgekommen. Wer waren sie bloß? Der Hass, der aus ihren Blicken sprach, erschreckte mich. Ich wusste schon gar nicht mehr, wo ich hinsehen sollte, und war froh, als ich endlich an der Reihe war und auf die Bühne trat.
Später kam ich dahinter, dass es sich bei ihnen um Anhänger der Türkischen Kommunistischen Partei gehandelt hatte, die mit ihrem Chor auf ihren Auftritt gewartet und bei meinem Anblick ihre Abscheu nicht hatten verbergen können. Der Grund für diese Abneigung war mir allerdings immer noch nicht klar. Ich stand weder zur Türkischen Kommunistischen Partei noch zu einer anderen Parteiorganisation in irgendeiner Beziehung, sondern war einfach ein unabhängiger Künstler. Schließlich konnte mich jemand aufklären. Die Kommunistische Partei warf mir vor, durch meine Platte »Unterstützung für die Linksabweichler« betrieben zu haben. Meine Traueroden waren als Propaganda für eine bestimmte politische Richtung gründlich missverstanden worden, und so war gegen mich eine Kampagne angezettelt worden, deren bizarrster Auswuchs darin bestand, dass man sogar eine Kassette von mir verdammte, die von einer der Türkischen Kommunistischen Partei nahestehenden Organisation in Deutschland herausgebracht worden war. Außerdem spielte der parteinahe Sender »Unsere Stimme« meine Lieder nicht mehr. So hatte ich es innerhalb kurzer Zeit zu der Ehre gebracht, sowohl vom türkischen Staat als auch von der Kommunistischen Partei mit einem Verbot belegt zu werden. Das
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