Roman mit Kokain (German Edition)
würde arbeiten können, ihr Plätzchen hätte; dennoch nahm ich es. Sie aber schniefte und blinzelte in einem fort, als sie mir das Geld gab, und suchte verschämt, ihre glücklichen, hellen, aufopfernden Tränen der Liebe zu verbergen.
Zwei Tage später fuhr ich mit Sonja gerade die Boulevards entlang – wir wollten aufs Land – , als sie nach Hause telefonieren musste. Sie ließ den Kutscher halten – wir waren an einem Platz unweit unseres Hauses – und bat mich, draußen auf sie zu warten. Ich stieg aus der Kutsche, lief ein wenig umher und wartete; als ich fast an der Straßenecke angelangt war, berührte mich plötzlich jemand am Arm. Ich sah mich um. Es war Mutter. Sie trug keinen Hut, ihre wenigen grauen Haare waren aufgebauscht; sie hatte die wattierte Jacke unseres Kindermädchens an und einen gestrickten Einkaufsbeutel in der Hand. Sie strich mir flehend und ängstlich über die Schulter. «Mein Junge, ich habe ein bisschen Geld auftreiben können, wenn du möchtest, dann …» – «Gehen Sie, gehen Sie » , unterbrach ich sie, gepackt von der entsetzlichen Sorge, Sonja könnte gleich herauskommen, sie sehen und erahnen, dass diese entsetzliche alte Frau meine Mutter war. «Gehen Sie schon, habe ich gesagt, verschwinden Sie » , sagte ich wieder; da ich sie hier auf der Straße nicht lauthals vertreiben konnte, sagte ich «Sie » zu ihr. Als ich dann wieder beim Kutscher war und der gleich darauf zurückgekommenen Sonja beim Einsteigen half, da empfand ich beim Blick in ihre blauen Augen, die sie wegen der Sonne, die gegen die lackierten Kotflügel der Kutsche prallte, zu schrägen Schlitzen zusammengekniffen hatte, ein solches Glück, dass ich nun ohne den geringsten Schauder dem grauen Kopf hinterhersah, der wattierte Jacke und den angeschwollenen Füßen in den ausgetretenen Schuhen, die sich schweren Schrittes auf der anderen Straßenseite fortbewegten.
Am nächsten Morgen stieß ich im Flur auf dem Weg zum Waschbecken mit Mutter zusammen. Sie tat mir leid, und da ich nicht wusste, was ich wegen des gestrigen Vorfalls zu ihr sagen sollte, blieb ich stehen und strich ihr mit der Hand über die welke Wange. Für mich unerwartet, freute Mutter sich nicht, lächelte auch nicht; stattdessen verzog sie plötzlich kläglich das Gesicht, und über ihre Wangen ergossen sich sogleich schrecklich viele Tränen, die mir aus irgendeinem Grund kochend heiß schienen. Sie wollte wohl etwas sagen und hätte es vielleicht sogar getan, aber ich betrachtete die Sache bereits als geklärt, und da ich fürchtete, mich zu verspäten, ging ich schnell weiter.
Solcherart war meine Haltung gegenüber den Menschen, solcherart war meine Gespaltenheit: auf der einen Seite das schwärmerische Verlangen, die ganze Welt zu umarmen, andere Menschen glücklich zu machen und sie zu lieben, auf der anderen Seite das skrupellose Ausgeben der Altersgroschen eines armen Menschen und die grenzenlose Grausamkeit meiner Mutter gegenüber. Besonders merkwürdig daran war, dass weder Skrupellosigkeit noch Grausamkeit in irgendeiner Weise im Widerspruch standen zu meinem schwärmerischen Drang, die ganze Welt da draußen zu umarmen und zu lieben, ganz so, als ob die vielen gutherzigen Gefühle, die so ungewöhnlich für mich waren, es mir zugleich leichter machten, eine Grausamkeit an den Tag zu legen, die ich (ohne diese gutherzigen Gefühle) bei mir nicht für möglich gehalten hätte.
Aber in all dieser Gespaltenheit gab es eine Spaltung in mir, die am deutlichsten umrissen, am schärfsten wahrnehmbar war: die meines geistigen und sinnlichen Ichs.
6
Einmal – schon spät in der Nacht, ich hatte Sonja gerade heimgebracht – ging ich entlang der Boulevards nach Hause, und während ich einen hell erleuchteten und deshalb umso öderen Platz überquerte, musste ich an einigen Prostituierten vorbei, die auf der Bank vor einem Straßenbahnhäuschen saßen. Wie immer empfand ich die Offerten und Anzüglichkeiten, die sie mir zuriefen, als ich an ihnen vorüberging, als Angriff auf meine Männlichkeit – schließlich wurde mir allein durch ihr Kokettieren gewissermaßen unterstellt, ich könne das, was sie mir für Geld anboten, bei anderen Frauen umsonst nicht bekommen.
Obwohl die Dirnen von der Twerskaja 27 in ihrem Äußeren zuweilen viel ansprechender waren als die Frauen, die ich auf den Boulevards suchte und fand, und obwohl es nicht mehr gekostet hätte, eine Dirne aufzusuchen, und die Gefahr einer Ansteckung dort auch nicht
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