Roman mit Kokain (German Edition)
indem sie die Hand ans Ohr legte, an ihrer kleinen Armbanduhr horchte und dann einen Blick darauf warf. Jag nutzte diesen Moment, in dem sie abgelenkt war, um mir aufgeregt mit dem Blick zu signalisieren: «Gleich gehe ich .»
Es war schon Abend, und es war windig geworden, als Jag ging. Staub kam in einem Bogen um die Straßenecke gewirbelt, flog als kleiner Sturm heran, hob die Tischdecke an, verschloss einem mit einer Grimasse die Augen, zog dann vorbei und löste sich in Wohlgefallen auf; es knirschte auf den Zähnen wie Zucker, und von oben, scheinbar vom Dach, fiel in der still gewordenen Luft, flatternd wie ein bananenfarbener Schmetterling, ein Herbstblatt herab, fiel immer weiter, bis es sich schließlich, schon direkt über dem Tisch, langsam auf den Kopf stellte und in einem der roten Gläser landete, eine Gänsefeder im Sandfass mimend. Plötzlich bedauerte ich, dass Jag gegangen war, als wäre mit ihm von dort, vom Balkon, die mir so schmeichelnde Verwunderung eines anderen ob meines Glückes verschwunden – ganz so, als wäre mein Glück ein neuer Anzug, der einen großen Teil seines Reizes einbüßt, wenn man sich darin nicht in der Öffentlichkeit zeigen kann. Sonja erhob sich, kam über den Balkon und setzte sich neben mich. «Hu, du Miesepeter » , sagte sie und machte ein neckisch-mürrisches Gesichtchen – das Mürrische sollte mich darstellen, das Neckische dagegen ihre Haltung meinem Mürrischsein gegenüber. Ängstlich wie ein Kind, das einen Hund neckt, fuhr sie mit ausgestrecktem Zeigefinger von oben über meine Lippen, die daraufhin so laute, fröhliche Schnalzgeräusche von sich gaben, dass ich sogleich hell auflachte. «Genau daran, ob du anfängst zu lachen oder ob du erbost meine Hand wegstößt » , sagte Sonja, «kann ich in Zukunft immer herausfinden, was du empfindest. Übrigens » , setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, «kannst du daran sehen, wie dumm wir Frauen sind: Die Wirkung, die wir erzielen, wenn wir anderen unsere Beobachtungsgabe mitteilen, ist uns wichtiger als der Nutzen, den wir aus dieser Beobachtungsgabe hätten ziehen können, wenn wir nicht davon gesprochen hätten .»
Unterdessen wurde es schnell dunkel, und der heftige Wind verbreitete Unruhe. Nur dort, über dem schwarzen Hausdach, wo die Sonne abgestürzt war, konnte man noch einen schmalen mandarinenfarbenen Streifen sehen. Ein wenig darüber aber war es düster; windige Wolken glitten vorbei wie Tintenschlieren im Wasser, so schnell, dass sich, als ich den Kopf in den Nacken legte, Balkon und Haus lautlos in Bewegung setzten und die ganze Stadt zu zerquetschen drohten. Hinter der Straßenecke rauschten die Blätter der Bäume wie das Meer; dann, als das nasse Brausen den höchsten Grad erreicht hatte, ertönte ein scharfes Knacken, wohl im Geäst, gleich darauf schlug irgendwo ganz in der Nähe mit einem brüchigen Klappern ein Fenster zu, und in dem darauf folgenden Moment herabsinkender Stille zerschellte die herausgefallene Fensterscheibe mit einem lauten Knall auf dem Straßenpflaster.
«Igitt » , sagte Sonja, «scheußlich ist es hier. Komm !»
In Jags Zimmer war es nach dem Aufenthalt auf dem Balkon still und stickig, als hätte man es geheizt. Hinter der geschlossenen Balkontür schlug die weiße Tischdecke in der Dunkelheit hin und her wie ein Taschentuch beim Bahnhofsabschied. Ich hielt Sonja am Arm und tastete über die trocken raschelnde Tapete auf der Suche nach dem Schalter, aber Sonjas Hand hielt mich sanft zurück. Da umarmte ich sie, presste sie an mich und schob sie langsam rückwärts, ihr dabei unbeholfen auf die Schuhspitzen tretend, in Richtung auf die in der Dunkelheit in schwachem Weiß schimmernde, wie platt gedrückte Säule, hinter der, wie ich mich erinnerte, eine Liege stand.
Während ich mich, Sonja an mich gepresst, in der Dunkelheit vorwärtsbewegte, wollte es mir aber, sosehr ich es auch versuchte, nicht gelingen, jene männliche, tierische Rohheit in mir zum Leben zu erwecken, die ich jetzt, genau jetzt, so sehr brauchte; in meiner Verzweiflung sah ich schon entsetzlich klar die Schmach vor mir, die mich erwartete, weil sogar jetzt, hier, in Jags Zimmer, in diesen entscheidenden Minuten, Sonjas Küsse und Sonjas Nähe mich zu sehr berührten, zu sehr an meinen Empfindungen rührten, als dass ich hätte Sinnlichkeit empfinden können. «Was soll ich tun, was soll ich nur tun ?» , fragte ich mich verzweifelt, wohl wissend, dass Sonja eine Frau war, die ich ungestüm
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