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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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und Kuchen schwenken.
    Dann sagte er der Bäckersfrau, was Sache war. Sie solle Sybille, die er in diesem Moment für immer und ewig zur Schicken Sybille taufte, eine Honigschnecke, dem Ami-Michi aber eines dieser Anis-Dinger mit Boden aus Zuckerguss, einen sogenannten Amerikaner, überreichen. Das saß. Dieser Doppelschlag hätte bereits genügen müssen, um sie alle bis ins Mark zu erschrecken. Doch dann bekam der Wolfskopf, der von früh bis spät an einem dumpfen Riesenhunger leidet, gleich zwei der Mohnsemmeln spendiert, die er sich auch selber immer kauft, wenn er durch einen Zufall an Geld gekommen ist. Nach ihm nahmen die Zwillinge, viel zu verstört, um dem Fremden dafür zu danken, je eine Rolle ihrer extrasauren Brause-Drops in Empfang. Und während der Wolfskopf schon andächtig kaute und der Ami-Michi, die Zähne im Zuckerguss, den Schock, erkannt zu sein, bereits wieder vergaß, wartete unser großer Bruder mit verkniffenem Gesicht, mit einer Misstrauensmaske, wie sie die Freunde noch nie an ihm gesehen hatten, darauf, was dieser falsche Blinde, was dieser märchenhaft spendable Hundehalter für ihn in petto haben würde.
    Der Fehlharmoniker drehte sich zurück zur Theke, zogzur Verblüffung der Bäckerin eigenmächtig die silberne Verschlussspange von einem der dort aufgereihten Glasbehälter, legte den Deckel beiseite und griff mit der ganzen Hand hinein. Es kam so, wie es kam. Ich schwöre, es ist bis jetzt noch immer so gekommen, wie es den Freunden bei diesem ersten Mal widerfuhr. Ich tat, ich tue so gut wie nichts dazu. Allenfalls helfe ich dem Sehbehinderten ein bisschen beim Ablegen des Deckels, damit dieser nicht über die Kante der oben recht schmalen Vitrine kippt. Ansonsten hab ich stets bloß zugeschaut. Ich habe mir die Szene, die Übergabe, in jeder meiner Sommerschleifen so verzögert, so verlangsamt, wie nur ein Wiederum-dabei-Sein es erlaubt, mitangesehen und dabei alle Blickwinkel ausgeschöpft, die der Verkaufsraum einer Bäckerei ermöglicht. Der Fehlharmoniker hielt den Kopf einer pechschwarzen Pfeife zwischen Daumen und Zeigefinger – natürlich war es eine Pfeife aus Lakritz!   –, und eine zweite hatte er sich schon selber in den Mundwinkel geklemmt. Er reichte das schwarze Ding dem Älteren Bruder, der gar nicht anders konnte, als es anzunehmen. «Rauchen wir eine Friedenspfeife   …», knurrte der Musiker durch den schief gezogenen Lippenspalt, «damit die Zeit vergeht!», fügte er komisch verzögert noch hinzu und nannte sein Gegenüber nach einem weiteren Päuschen, in dem er unsichtbaren Rauch ansog und wieder ausblies, mit seinem Namen, als stünden unserem großen Bruder die beiden Silben in dicken Druckbuchstaben auf der Stirn.
    Das war ein starkes Stück. Aber die Freunde hatten zu innig mit ihrem Ess- und Schleckkram, mit den ihnen gemäßen Gaben zu tun, um auf die Worte des Musikers und auf die Pfeifen aus Lakritz zu achten. Der Fehlharmoniker bezahlte. Seine Hündin zog ihn hinaus, und schon waren diebeiden und zuletzt das auf der rechten Schulter schaukelnde Instrument über den Rand des Schaufensters hinaus verschwunden. Frau Fröhlich aus dem gelben Block, die sich an Hund und Herr vorbei durch die Tür geschoben hatte, kam erst einmal als nächste Kundin dran, weil unsere Sybille den Mund zu voll mit Honigschnecke hatte, um der Bäckersfrau zu sagen, weswegen sie noch vor der Ladentheke stand.
    Jetzt, wo die Nacht lacht, wo sie gemeinsam ins Pilzweiß der hohlen Nagelbuche starren und nach oben horchen, so lang schon und so unbewegt, dass dem Wolfskopf sein unkindlich starker Nacken wehtut, ist sich der Ältere Bruder endgültig sicher, dass die anderen im Gegensatz zu ihm die Stimme des Akkordeonisten nicht erkennen können. Auch in der Bäckerei, als er den Stiel der Pfeife in den Mund schob und sein Speichel die erste Süße aus dem klebrig werdenden Stäbchen löste, hatten die anderen so gut wie nichts kapiert. Denn wieder draußen, wieder unter freiem, blauem Himmel, wollte keiner von ihm wissen, was er sich nun, wo er ihn mehr als nur gesehen hatte, über den falschblinden Musiker dachte. Sogar die Zwillinge, auf deren Wachheit auch in diesem Sommer noch einmal, Tag für Tag, Verlass gewesen ist, schwiegen sich aus, als sie neben Sybille vor seiner Karre in den Drosselgrund zurückmarschierten. Der Wolfskopf und der Ami-Michi, die ihn gemeinsam schoben, beließen es hinter seinem Schopf, wie nicht anders zu erwarten, bei Kau- und Schmatzgeräuschen.

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