Roman unserer Kindheit
krankgeschrieben ist, gelegentlich eine Zigarette pafft, hat sich auch schon eine leere Schachtel und damit das nötige Silberpapier gefunden. Sie schneidet einen Streifen ab, faltet ihn zurecht, und es klappt auf Anhieb. Schon spielt das Radio, schon ist die halbe Welt gerettet. Die Mutter überlegt, ob sie den Sauger gleich in den Kreuztöterweg zu Elektro-Lutscher hinübertragen soll. Aber der Wunsch, jetzt möglichst schnell unter und vor allem hinter dem Wohnküchensofa sauber zu machen, will ihr als eine fix gewordene Idee nicht aus dem Kopf. Sie ärgert sich über den Vater, der immer noch nicht da ist, sie ärgert sich über sich selbst, weil sie den Bauch der Couch mit schwerstem Kram, mit den Heimatromanen ihres im Krieg sang- und klanglos verschwundenen einzigen Bruders proppenvoll gestopft hat. Sie ärgert sich darüber, dass von ihrem Bruder außer dessen Namen, den ihr Ältester trägt, nur dieser Wald- und Wiesen- und Gebirgsunfug in die Gegenwart geraten ist, sie grollt sogar dem guten Doktor Junghanns, der ihr im Anschluss an die unumgänglich gewordene Untersuchung strengstens verboten hat, Wäschekörbe, Putzeimer voll Wasser oder noch Schwereres zu heben. Weil Kaffee gegen fast allen Ärger hilft, trinkt sie den kalten, der noch im Glas ist, aus und stellt Wasser für einen frischen auf den Gasherd.
Während der heiß werdende Kesselboden knackt, fingertsie durch die Taschen ihrer Kittelschürze und findet links unter dem Staubtuch, was sie sucht. Natürlich weiß sie, dass es fast leer ist, dass nur ein einziges Dragée durch den Kunststoffzylinder klappern wird, wenn sie ihn schüttelt. Eins, das bedeutet eins zu wenig für eine gute Nacht. So viel ist sicher. Und ebenso gewiss ist, dass Doktor Junghanns ihr so bald kein neues Rezept ausstellen wird. Obwohl er anfängt, nicht nur die Namen neuer, sondern auch die Namen langjähriger Patienten zu vergessen, ist er in dieser leidigen Angelegenheit einfach nicht auszutricksen. Als sie es neulich dennoch versucht hat, wurde sie von ihm altväterlich über die Gefahren einer Abhängigkeit aufgeklärt. Als ob sie das nicht selber wüsste. Sie kennt sich zur Genüge aus mit Ursache und Wirkung. Ihr lieber Kaffee, den sie sich jetzt, sobald das Wasser kocht, aufgießen wird, vertreibt Müdigkeit, Melancholie und Ärger. Ihre Dragées jedoch helfen nicht nur gegen die bösen Träume, sondern auch gegen das Flattern, Flimmern und schmerzhafte Krampfen, das sich so sicher wie das Amen in der Kirche nun bald, wie immer pünktlich nach dem sechsten Glas Kaffee, unter dem linken Busen einstellen wird.
Sommernacht
Die Männer rennen ineinander; fast hätten sie sich umgerannt. Taumelnd suchen sie Halt an den Ellenbogen des Gegenübers, so heftig war der Zusammenstoß. Beide waren umständlich am Überlegen, beide waren in Gedanken ihren Rümpfen, die vor der Tür des Schwesternzimmers aufeinanderprallten, ein gutes Stück voraus. Der Vater, der sich eben dazu entschlossen hat, nicht mit dem Bus in die Siedlung heimzufahren, sondern die Bärenkellerstraße hochzumarschieren, um unter deren Linden auszunüchtern, begreift sogleich, wen er da am weißen Ärmel hat, wessen Wampe sich nun von seinen Rippen löst. Sein Ältester, der ihm so fremd ist, wie einem nur die eigenen Kinder fremd sein können, hat dieses Ungetüm von Arzt gleich am Tag der ersten Behandlung mit wenigen Sätzen auf ein Bild gebracht.
Der Felsenbrecher’sche Elan, noch wuchtiger als der aus Filmen und Romanen allgemein bekannte chefärztliche Schwung, zehrte von der Phantasie eines Gesprächs. Im Kopf sprach der Professor bereits Klartext mit seinem neuesten Knieversehrten. Der nach Bier riechende Prolet, der ihm gegen den Kittel rempelte, hat ihn nur kurz in dieser Gedankenrede unterbrechen können. Jetzt legt er sich noch schnell einen lang nicht mehr erzählten, nun aber endlich wieder herrlich passenden Witz zurecht, einen köstlichen Urwaldwitz, mit Missionar und Kannibalen-Kochtopf, einen Witz, der schlagend deutlich macht, dass man bestimmte Dinge –und hätten sie mit Gott zu tun! – im Leben nicht unbegrenzt genießen darf. Fußball kann himmlisch süß sein; aber das Fußballspielen-Können hängt ausgerechnet am hässlichsten und empfindlichsten unserer Gelenke. Wenn der kleine Kerl mit dem künftig halbsteifen Knie unbedingt weiterhin eine Kugel rollen machen will, soll er es mit Kegeln oder mit dessen neumodischer Variante, mit diesem Bowling aus Amerika, versuchen.
Als
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