Roman
der Lehrer bereits den nächsten Mann zu sich. Auch er kletterte aus der Luke, und weg war er. Aus dem Leben geschieden, dachte Kristina. Dann folgte Nummer drei. Der Mann zögerte, doch dann stieß auch er sich ab und verschwand aus Kristinas Blickfeld im Nichts. Drei Lebensmüde hatten sich verabschiedet.
Nun saß sie mutterseelenallein auf der Bank und sah zu ihrem Lehrer, der den Kopf zur Luke hinausgestreckt hatte. „Wir fliegen eine kleine Schleife!“, schrie er ihr zu.
Kristina rührte sich nicht von der Stelle. Sie fühlte nichts als ihr hämmerndes Herz. Klares Denken war nicht mehr möglich. Dann gab Serengeti ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich nach vorne bewegen sollte. Kristina krabbelte auf allen vieren zur Luke und schwang die Beine hinaus. Womit sie nicht gerechnet hatte, war der Luftdruck, der sie nicht hinaussog, sondern in den Bauch des Flugzeugs zurückdrückte. Sie musste all ihre Kraft aufbieten und sich an der Luke festhalten, um nicht nach hinten zu fallen. Der Lehrer befestigte die Reißleine und signalisierte ihr, dass sie sich noch weiter hinauslehnen sollte.
Dann hörte Kristina das „Go!“, und sie sprang.
Sie fiel. Es war wie ein Filmriss. Eine Leere tat sich auf, ein schwarzes Loch, ein Kurzkoma, eine Erinnerungslücke von exakt zehn Metern Länge. Darauf folgte ein kräftiger Ruck, der Kristina wieder ins Hier und Jetzt katapultierte. Wie eine Marionette baumelte sie an dem Schirm und drehte sich dabei wie ein Brummkreisel um die eigene Achse. Oh, mein Gott, ich bin gesprungen, schoss es ihr durch den Kopf, und sie stieß einen Jubelschrei aus.
Das Drehen hörte auf, als die Fangleinen sich entwirrt hatten. Nun schwebte sie lautlos durch die Luft. Sie sah nach oben und entdeckte den bunten Schirm über sich. Kein Brötchen, stellte sie erleichtert fest. Sie ließ den Blick schweifen. Weit unter ihren Füßen erstreckten sich Felder und Wiesen, an der Seite ein kleines Wäldchen. Kristina stieß noch einen Jauchzer aus. Ihr Herz wummerte zwar auch weiterhin wie verrückt, aber inzwischen durchströmte sie ein Gefühl der Überwältigung. Ihre Reise schien sie gar nicht zum Boden zu führen. Es war vielmehr so, als würde sie in der Luft hängen und wie eine Seifenblase über der Erde schweben. Dazu diese unglaubliche Ruhe. Und dann dieser Rundumblick. Grandios. Matula hatte recht, dachte sie plötzlich. Das hier war fast so gut wie ein … Na ja, nur das endlose Vorspiel vor dem Sprung, das brauchte wirklich kein Mensch.
In der Ferne entdeckte sie den kleinen Flughafen, an dem ihre Reise begonnen hatte. Langsam glitt sie in diese Richtung und näherte sich ihrem Ausgangspunkt. Die Wiese, auf der sie landen sollte, geriet in ihr Blickfeld. Sie flog darüber hinweg. Der Höhenmesser in ihrem Helm meldete sich. Kristina suchte nach der Windfahne auf dem Dach des Flughafengebäudes. Vorsichtig zog sie an dem Griff, der rechts neben ihrem Kopf baumelte, lenkte so den Schirm nach rechts und drehte sich allmählich in die gewünschte Richtung. Daraufhin signalisierte ihr der Höhenmesser, dass die Landung bevorstand. Kristina zog nun an den beiden Griffen über ihrem Kopf. Der Schirm stellte sich schräg und bremste ihren Flug. Kaum hatte sie die Beine angewinkelt, berührten ihre Füße auch schon den Boden. Sie machte drei lange Schritte, verlor dann das Gleichgewicht und landete auf dem Hosenboden. Einen Augenblick später waren Sandra und Paul bei ihr und halfen ihr auf.
„Alles okay mit dir?“, fragte Paul, der sich an ihrem Schirm zu schaffen machte und ihn zusammenpackte.
„Wie war’s?“, wollte Sandra wissen.
Kristina grinste und schlug sich stolz mit den Fäusten auf die Brust. „Vor euch steht King Kongs Schwester!“ Damit raffte sie den Schirm zusammen und stapfte in Richtung Hangar.
Sandra lief ihr hinterher. „Und, hab ich zu viel versprochen?“
„Ja, denn das war viel zu kurz“, rief sie. „Aber es war der absolute Hammer!“
Sandra legte die Hand auf ihre Schulter. „Na dann bist du ja für alle Eventualitäten gewappnet. Was kann dich jetzt noch schrecken?“
Nichts, dachte Kristina. Es kam ihr vor, als würde sie in einem See voller Glückshormone schwimmen. Hoffentlich gab’s hier keinen Abfluss.
12
Die folgenden Tage in Frankfurt erlebte Kristina wie im Rausch. Es war, als würde sie sich in einem immerwährenden Freudentaumel befinden. Und ehe sie sichs versah, musste sie sich von Paul und Sandra verabschieden und sich auf den
Weitere Kostenlose Bücher