Romana Exklusiv 0186
in ihrem Beruf bei Madame Lilian, daher hatte sie allem skeptisch gegenübergestanden. Aber nach zwei Jahren bei der Hellseherin hatte sie ihre Meinung über jene Leute geändert, die an Astrologie glaubten, an Handliniendeutung und die Aussagen der Tarotkarten.
Eines jedoch war bei Madame tabu: das Quija-Board, die Buchstaben- und Zahlentafel für spiritistische Sitzungen. Diese hielt sie erklärtermaßen für ein Übel, für ein Vehikel, das unweigerlich in die Finsternis führte.
Madames Glaskugel bestand vielmehr aus Beryll als aus reinem Kristall und thronte auf einem speziellen Sockel auf einem mit weißem Tuch bedeckten Tisch. Der Rahmen des Sockels war aus Elfenbein, in das mystische Namen und Symbole eingraviert waren. Der Tisch war rund und stand auf einem Pentakel, einem fünfeckigen Stern, der in den Fußboden eingelassen war. Auf dem Tisch befanden sich zwei antike Kerzenleuchter. Weihrauch brannte in einer hinteren Ecke des Zimmers und hatte eine beruhigende Wirkung.
Dies war das magische Drumherum, waren die Hilfsmittel zur Schaffung einer Atmosphäre, die Kunden dazu brachten, an Wahrsagerei zu glauben. Nichtsdestoweniger waren sie faszinierend, und Bliss bezweifelte nicht, dass ihre Arbeitgeberin beeindruckende Fähigkeiten besaß, wahrscheinlich eine Kombination aus außersinnlicher Wahrnehmung und der Gabe der Überzeugungskraft.
Was durch ihre Erscheinung noch unterstützt wurde. Sie war groß, und in ihrem langen jadegrünen Kleid, mit Perlenketten und Amuletten um den Hals, sah sie aus wie eine Hexe. Ihr langes Pferdegesicht hatte einen seltsamen Charme, und im Lauf der Jahre hatte Bliss gelernt, sie zu mögen, und sie arbeitete gern für sie.
Trotzdem hatte sie Madame Lilian niemals darum gebeten, ihr die Tarotkarten mit den wunderschönen Bildern darauf zu legen und ihre Zukunft daraus zu lesen. Nichts in ihrem Leben konnte erschütternder für sie sein als herauszufinden, dass Cathlamet einem Fremden in die Hände gefallen war und sie kein Recht mehr hatte, dort zu leben.
Bliss hatte nie einen Griechen gekannt, daher kam er ihr umso rätselhafter und fremder vor. Als der Anwalt seinen Namen ausgesprochen hatte, glaubte sie, nie einen ausgefalleneren gehört zu haben. Jetzt erschien er ihr geradezu verabscheuungswürdig, da der Mann, der diesen Namen trug, ihr gesagt hatte, sie solle ihn gemeinsam mit ihm tragen. „Ich … ich kann nicht!“, schrie sie.
„Haben Sie etwas gesagt, mein Kind?“ Madame Lilian betrat den Raum.
Bliss wirbelte herum, sah sich Madame gegenüber, und ein Ausdruck von Beunruhigung lag auf ihrem Gesicht. Als das volltönende Dröhnen des Big Ben durchs Fenster hereindrang, beschloss sie, die Fähigkeiten ihrer Arbeitgeberin zu testen. Sie stand da mit erhobenem Kinn, als Madame den Blick ihrer jadegrünen Augen über ihr blasses Gesicht gleiten ließ.
„Meine Liebe, Sie sehen bedroht aus!“
„Warum sagen Sie das, Madame?“ Bliss brauchte Hilfe und Rat, wenngleich sie keines von beidem zu einem anderen Zeitpunkt gesucht hätte. Dazu war sie viel zu verschlossen. Sie hatte sich schon mit anderen Sorgen und Ängsten herumgeschlagen und sie überwunden, jetzt aber fühlte sie sich mit einer Situation konfrontiert, mit der sie allein nicht fertig wurde.
„Ich spüre es, Bliss, sehr stark.“ Madame kam zu ihr herüber und griff nach ihren Händen. „Ihre Hände sind eiskalt, ein sicheres Zeichen für eine tief sitzende Angst. Es hat mit Ihrem Bruder zu tun, nicht wahr?“
„Ja.“ Bliss schauderte. „Leider ja.“
„Und es muss unverzüglich geregelt werden. Dieser Bruder ist der Bube in Ihrem Kartenhaus, meine liebe Bliss. Schon als ich ihn kennenlernte, wusste ich, dass er einen Dämon heraufbeschwören würde.“
Bliss atmete tief ein und wehrte sich nicht, als Madame sie zum Tisch hinüberzog, auf dem die Beryllkugel stand, mit weißer Seide bedeckt. Sie setzte sich, als Madame die goldenen Kerzenleuchter anzündete und hinüberging, um die Vorhänge zuzuziehen, damit die Frühlingssonne sie nicht blendete. „Es wird nicht schaden, einen Blick in die Kugel zu werfen. Das regt meine Gedanken an, und ich muss mich bemühen, Ihnen den richtigen Rat zu geben.“
Madame Lilian setzte sich hin und nahm die Verhüllung der Kugel ab, die allabendlich in einem Kräuter-Essig-Aufguss gereinigt wurde, sodass sie im Kerzenlicht glänzte.
Die Hellseherin hatte Bliss gegenüber niemals behauptet, in der Beryllkugel Bilder zu sehen. Vielmehr versetzte sie
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