Romana Exklusiv 0186
Tisch. Das gelockte rotblonde Haar fiel ihr über die Schultern. Es war länger als vor zehn Jahren, aber es leuchtete und schimmerte im Sonnenschein noch genauso wie damals. Es hatte sich seidenweich angefühlt. Als sie nackt in seinen Armen gelegen hatte, war ihm klar geworden, dass ihr Haar nicht gefärbt war. Er erinnerte sich daran, wie überrascht er darüber gewesen war. Und auch darüber, dass sie noch Jungfrau gewesen war.
Diese Gedanken, die immer wieder auf ihn einstürzten, waren ihm verhasst, und er verachtete sich dafür. Okay, Cassandra war noch nicht mit Antonio verheiratet gewesen, als er, Enrique, mit ihr zusammen gewesen war. Aber das war keine Entschuldigung für das, was er getan hatte.
„Das Dorf sieht von hier oben so klein aus“, sagte sie leise.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte er und setzte David zuliebe eine höfliche Miene auf. Dann wies er auf die hohen Gläser mit Eistee.
Cassandra blickte ihn sekundenlang aufmerksam an. „Ja, gern“, erwiderte sie und bemühte sich, seine Finger nicht zu berühren, als er ihr ein Glas reichte.
Ja, ich möchte genau wie sie vermeiden, dass wir uns berühren, dachte er. Trotzdem pochte sein Puls an den Schläfen viel zu heftig. Es war keine kluge Entscheidung gewesen, sie mit in den Palast zu nehmen. Hier in dieser Umgebung erinnerte ihn alles an seinen Bruder, und er war sich dessen, was er Antonio angetan hatte, viel zu sehr bewusst.
„Kann ich eine Cola haben?“, fragte David.
Erst jetzt merkte Enrique, dass der Junge neben ihm stand. „Natürlich“, antwortete er und öffnete ihm eine Flasche. „Hier.“
„Danke.“ David nahm die Flasche entgegen. Doch statt zu trinken, biss er sich auf die Lippe. „Es tut mir leid, Onkel Enrique“, begann er. „Ich meine, ich habe nicht nachgedacht.“ Er warf seiner Mutter einen reumütigen Blick zu. „Ich wollte dich nicht aufregen, Mom.“
Cassandra war verblüfft. „Wir reden später darüber“, erwiderte sie jedoch nur und trank einen Schluck Tee. „Er ist köstlich, Enrique. So gut schmeckt der Eistee zu Hause nicht“, fügte sie hinzu.
Mit anderen Worten, sie will erst mit David reden, wenn sie mit ihm allein ist, sagte Enrique sich. Die ganze Situation wurde langsam lächerlich. Früher oder später musste Cassandra einsehen, dass es keine Alternative gab und dass er und sein Vater eine gewisse Rolle in Davids Leben spielen würden.
„Ich habe gestern Abend mit meiner Mutter gesprochen“, stellte er fest, als David zum Brunnen ging. Cassandra sollte nicht glauben, nur weil der Junge hier war, würde er über das, was ihm momentan wichtig war, nicht reden. Sie musste begreifen, wie sinnlos es war, das Thema zu vermeiden.
„So?“, erwiderte sie. Als er ihren besorgten Blick bemerkte, tat es ihm sekundenlang leid, das Thema angeschnitten zu haben. Sie war offenbar immer noch nicht zu einem Kompromiss bereit. „Hat das etwas mit mir zu tun?“
Enrique atmete tief ein. „Sie hat mir berichtet, mein Vater erhole sich gut“, erklärte er ruhig. „Sie hofft, dass er in einigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wird.“
Cassandra zuckte die Schultern. „Das freut mich für dich.“
Er verspürte plötzlich den heftigen Wunsch, sie durchzuschütteln. Es gelang ihm jedoch, sich zu beherrschen. „Freust du dich wirklich darüber, dass David seine Großeltern bald kennenlernen wird?“
„Soll das ein Scherz sein?“ Obwohl ihre Stimme ruhig klang, spürte man Cassandras Angst.
„Nein, Cassandra, mir ist nicht nach Scherzen zumute.“ Er ärgerte sich darüber, dass er Mitleid mit ihr hatte.„Du kämpfst auf verlorenem Posten. Gib es doch endlich zu. Der Junge hat dir deutlich genug gezeigt, was er empfindet. Die Art und Weise, wie er seinen Willen durchsetzt, kann man natürlich nicht akzeptieren. Aber du wirst nichts erreichen, wenn du ihm weiterhin verbietest, seine spanische Familie kennenzulernen.“
Sie schien mit sich zu kämpfen. Schließlich stellte sie das Glas hin und fragte angespannt: „Rufst du mir ein Taxi? Ich möchte zurück nach Punta del Lobo.“
Er seufzte. „Auch wenn ich mich wiederhole: Ich fahre euch selbst zurück. Du brauchst kein Taxi.“
Cassandra schüttelte den Kopf. „Es ist mir aber lieber.“
„Kannst du es dir überhaupt erlauben?“ O nein, weshalb habe ich das jetzt gesagt?, überlegte er und bereute die Bemerkung.
„Natürlich hätte ich mir denken können, dass du so etwas fragst“, erwiderte sie verächtlich.
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