ROMANA EXKLUSIV BAND 231
lange, knorrige Finger dem Himmel entgegen und breiteten sich wie ein Schirm über den Boden. Die zeitlose Schönheit der Bäume beeindruckte Joelle zutiefst, und sie betrachtete Gabriels Heimat mit wachsender Hochschätzung.
Am Ende der Zufahrt kam schließlich das alte Farmhaus in Sicht, das – wie Gabriel ihr erzählt hatte – von seinem Ururgroßvater erbaut worden war. Es war ein großes weißes Gebäude im typischen Stil dieser Gegend Louisianas, die im achtzehnten Jahrhundert von den sogenannten Cajuns besiedelt worden war – Abkömmlingen französischer Siedler, die sich ihre angestammte Lebensweise und sogar einen eigenständigen, mit vielen französischen Wörtern durchsetzten Dialekt bewahrt hatten.
An dem Haus fielen besonders die Veranda und die bis zur Mansarde reichende Außentreppe auf. Unter dem Dach hatten traditionellerweise die Söhne des Hauses geschlafen, erklärte Gabriel nun Joelle. Die Töchter hingegen, deren Tugend gewahrt werden musste, hatten Zimmer nahe dem der Eltern.
Dass es den jungen Männern freisteht, zu kommen und zu gehen, wie sie wollen, ist heutzutage nicht anders, dachte Joelle. Söhne wurden immer noch bevorzugt. Wer das bezweifelte, brauchte ja nur ihren Vater zu fragen, wie enttäuscht er gewesen war, als er eine Tochter bekommen hatte.
Gabriel fuhr neben das Haus und stellte den Wagen nahe der separaten Doppelgarage ab, die natürlich, wie Joelle feststellte, jüngeren Datums, als das Wohnhaus war.
„So, da sind wir.“ Gabriel blickte so nachdenklich auf sein Anwesen, als würde er es nach langer Zeit zum ersten Mal wieder sehen. Schließlich stieß er die Wagentür auf und stieg aus.
Joelle atmete tief durch und verließ ebenfalls den Wagen, wobei ihr die Knie weich wurden.
„Ich nehme das Gepäck“, erklärte Gabriel. „Ziemlich kühl heute Abend. Geh du schon mal ins Haus, ich komme gleich nach.“
Ja, der Märzwind ließ sie in der dünnen Bluse frösteln. Joelle schaute zum Haus und sah jemand drinnen an der Tür stehen. Das Licht auf der Veranda flammte auf. Die hilfsbereite Person im Haus war bestimmt niemand anderes als die gefürchtete Haushälterin. Der Gedanke an Big Sadie verursachte Joelle, gemeinsam mit der frischen Brise, eine Gänsehaut. Sie rieb sich die Arme, um sie zu wärmen, und sagte: „Ich glaube, ich warte lieber auf dich.“
Gabriel nahm die Koffer von der Ladefläche und klemmte sich je einen unter den Arm. Dann ging er zur Veranda. „Beeil dich, Joelle, bevor du bis auf die Knochen durchgefroren bist.“
„Das bin ich sowieso schon“, erwiderte sie und folgte ihm.
„Du darfst auf keinen Fall krank werden“, erklärte er bedeutsam.
„Ich weiß“, erwiderte sie in herablassendem Ton. „Es würde dem Baby schaden.“ Sie verschränkte die Arme und erschauerte erneut.
Finster runzelte Gabriel die Stirn. „Komm endlich. Du frierst dich ja zu Tode. Ins Haus mit dir!“ Mit dem Ellbogen drückte er die Klinke herunter und stieß mit dem Fuß die Tür auf. „Beeil dich, Joelle!“
Sie betrat, die Arme noch immer um sich geschlungen, das Haus. Ihre Hände waren eiskalt, die Füße wie taub, aber das lag wahrscheinlich ebenso sehr an der Nervosität wie an der Kälte. Joelle sah sich um und stellte fest, dass sie sich in der Küche befand. Hier war es warm und behaglich, und sie fühlte sich sofort besser.
„Ich mach heiße Schokolade“, hörte sie hinter sich eine Frau sagen und wandte sich um.
Beim Kühlschrank stand eine kräftige, mittelgroße Frau mit grauem Haar. Sie nahm eine Milchflasche heraus und füllte einen Topf auf dem Herd, dann zündete sie zuerst noch das Gas an, bevor sie aufblickte, einen zugleich wissenden und neugierigen Ausdruck in den Augen.
„Guten Abend“, grüßte Joelle und erschauerte unwillkürlich vor Anspannung. Sie wollte unbedingt einen guten Eindruck auf die Haushälterin machen, mit der sie ab jetzt unter einem Dach leben würde. „Sie sind bestimmt Sadie. Ich bin Joelle Ames. Wir haben schon mal kurz miteinander telefoniert. Vor einigen Wochen.“
Sadie musterte sie eingehend, und Joelle hatte das Gefühl, der Moment würde kein Ende nehmen. Errötend blickte sie Gabriel Hilfe suchend an, aber der schien ihr nicht beistehen zu wollen. Er hatte den Kühlschrank geöffnet und sah unverwandt hinein, wahrscheinlich auf der Suche nach etwas Essbarem.
Wie konnte er jetzt Appetit haben? Am liebsten hätte sie ihm eins hinter die Ohren gegeben!
Sadie kam näher zu ihr. „Sie sind
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