Romana Extra Band 1
würde. Nein, er würde heute Abend pünktlich am Treffpunkt vor der Kirche erscheinen.
Er konnte nichts dagegen tun – er wollte die Frau wiedersehen.
„Toll siehst du aus, Schwesterherz.“ Lindy strich sich eine ihrer mahagonifarbenen Locken aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten hinter den dicken Brillengläsern. „Dieser Luís Santiago ist ein Dummkopf, wenn er dir nicht mit Haut und Haaren verfällt!“
„Vielen Dank, aber darauf lege ich keinen gesteigerten Wert“, entgegnete Beth steif – die Lüge kam ihr völlig problemlos über die Lippen. „Das Einzige, was ich von dem Mann möchte, ist dieses Stück Land, das ich ihm abkaufen soll – nicht mehr und nicht weniger!“
Lindy grinste wissend, und Beth fragte sich, ob ihr die Wahrheit tatsächlich so deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Sie konnte nur hoffen, dass sie für Außenstehende nicht genauso durchschaubar war wie für ihre Schwester. Denn in Wirklichkeit interessierte es sie sehr wohl, was Luís Santiago über sie dachte. Vermutlich verhielt es sich einfach so, dass ihre Hormone nach den Jahren völliger Abstinenz – sah man einmal von dem kurzen Intermezzo mit Lyle Beckham ab – verrücktspielten. Was sie dabei niemals erwartet hätte, war, dass nach der Geschichte mit Diego irgendein Mann noch einmal eine derart heftige Reaktion bei ihr auslösen würde.
Was Lyle betraf, so war sie für ihn ein netter Zeitvertreib gewesen, mehr nicht. Die großen Gefühle hatte er ihr nur vorgegaukelt, um sie ins Bett zu bekommen. Instinktiv musste sie gespürt haben, dass er nicht gut für sie war. Und als er sein wahres Gesicht gezeigt hatte, war es eher verletzter Stolz als ein gebrochenes Herz gewesen, was ihr zu schaffen gemacht hatte.
Diego hingegen war ihre erste große Liebe. Sie hätte ihr Leben für ihn gegeben. Und als er gestorben war, hatte sie geglaubt, ein Teil von ihr wäre mit ihm gegangen.
Seit jenem Tag hatte sie sich nie wieder wirklich als Frau gefühlt. Bis jetzt …
Sie zwang sich, nicht weiter an die Vergangenheit zu denken. Jedenfalls schien nun ausgerechnet Luís Santiago ihr das zu geben, was sie seit Diegos Tod schmerzlich vermisste. Wie konnte das sein?
„Wann wolltest du dich mit ihm treffen?“ Lindys Frage riss Beth aus ihren Gedanken.
„Wir sind für sechs Uhr verabredet“, erwiderte sie und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach fünf, sie hatte also noch ausreichend Zeit, denn bis zur Kirche brauchte sie zu Fuß gerade einmal fünf Minuten. Trotzdem beschloss sie, schon jetzt aufzubrechen. Lindy meinte es sicher nur gut, doch Beth konnte das fröhliche Geplapper ihrer Schwester im Moment nicht ertragen.
„Du willst schon los?“ Lindy wirkte überrascht. „Aber es ist viel zu früh! Wo wolltet ihr denn überhaupt hin? Onkel Timothy hat vorhin so geheimnisvoll getan, als er wegging. Er sagte, er müsse noch etwas für deine Verabredung mit Señor Santiago erledigen. Was heckt ihr beide da aus?“
„Du musst nicht alles wissen, Liebes“, entgegnete Beth lächelnd.
Ein letztes Mal drehte sie sich kritisch vor dem Spiegel hin und her, dann nickte sie zufrieden. Das tief ausgeschnittene Kleid mit dem glockigen Rock, der bis zu den Knien reichte, umschmeichelte ihre schlanke Figur.
Sie verabschiedete sich von Lindy und ihrer Mutter, die draußen im Garten arbeitete. Helen wirkte entspannt wie schon lange nicht mehr. Estellencs schien ihr wirklich gutzutun. Beth unterdrückte ein wehmütiges Seufzen. Warum konnte es nicht ihnen allen so gehen?
Als sie bei der Kirche ankam, war es erst kurz nach halb sechs. Nun blieb ihr viel zu viel Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie setzte sich auf eine der Bänke auf dem Vorplatz und beobachtete zwei alte Männer, die an einem Klapptisch mitten auf der Gasse saßen und Tablas reales – eine spanische Variante von Backgammon – spielten. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser drang das Klappern von Töpfen und Geschirr. Helles Kinderlachen und Gesprächsfetzen schwebten durch die Luft zu ihr herüber.
Für einen Moment fühlte Beth sich in die Vergangenheit zurückversetzt. In eine Zeit, in der ihr Leben noch unkompliziert gewesen war. Als Kind hatte sie sich nicht vorstellen können, einmal woanders zu leben als in Estellencs. Doch das war, bevor Dad seinen Job verlor und zum Trinker wurde, machte sie sich klar. Bevor ich Diego kennen- und lieben lernte und ihn wegen der Engstirnigkeit unserer Familien wieder verlor.
Heute war
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