Romana Extra Band 1
rief Luís ihr hinterher, doch sie reagierte nicht.
Kurz überlegte er, ob er ihr nachlaufen sollte. Ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, seine kleine Schwester allein losziehen zu lassen. Sie war schließlich erst sechs.
Doch dann zuckte er mit den Schultern. Sie würde bestimmt nicht weit kommen. Er kannte seine Schwester. Es fing bald an zu dämmern, und dann würde sie es mit der Angst zu tun bekommen und umkehren. Denn wenn Laura eines noch mehr hasste, als einen Fehler eingestehen zu müssen, dann war es, im Dunkeln allein zu sein.
„Mach doch, was du willst“, brummte er und drehte sich um. Dann würde er eben ohne sie nach Hause gehen. Laura konnte sich auf ein ganz schönes Donnerwetter gefasst machen, wenn sie zu spät zum Abendessen kam.
Es überraschte ihn nicht sonderlich, als sie zum Essen nicht erschien. Als sie aber eine Stunde später noch immer nicht aufgetaucht war, fing er an, sich ernstlich Sorgen zu machen – ebenso wie seine Eltern.
Er erzählte ihnen, was Laura vorgehabt hatte. Und in diesem Zusammenhang beichtete er ihnen auch, dass sie beide sich öfter gemeinsam zu „ihrer Bucht“ davongeschlichen hatten. Er rechnete fest mit einer Strafpredigt – schließlich hatte einzig Javier, der mit seinen elf Jahren der Älteste von ihnen war, die Erlaubnis, das Grundstück ohne Begleitung eines Erwachsenen zu verlassen.
Doch nichts dergleichen passierte.
Weder seine Mutter noch sein Vater schimpften mit ihm. Sie schienen ihm nicht böse zu sein, dass er Laura auf eigene Faust hatte losziehen lassen.
Er brauchte nicht einmal zu fragen, warum. Er sah es in ihren Augen.
Sie hatten Angst.
Und das war noch viel, viel schlimmer als die befürchtete Strafpredigt.
„Ich sehe sie heute noch manchmal vor mir, wie sie wütend davonmarschierte“, beendete Luís seine Erzählung. „Es war das letzte Mal, dass ich meine Schwester gesehen habe. Der halbe Ort half uns, nach Laura zu suchen, doch sie blieb verschwunden. Es wurde nie auch nur die geringste Spur von ihr gefunden. Es war, als hätte sich der Erdboden aufgetan und sie einfach verschluckt.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Beth wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie sich vorstellte, dass Lindy … Nein, daran durfte sie nicht einmal denken! Sie fragte sich, wie der kleine Junge Luís damit zurechtgekommen war. Vor allem, da er sich vermutlich lange Zeit den Vorwurf gemacht hatte, verantwortlich für das Verschwinden seiner Schwester zu sein.
„Mein Vater kam nie über Lauras Verschwinden hinweg. Während sich für uns andere das Leben irgendwann wieder normalisierte, gab er die Hoffnung nie auf und suchte weiter. Er vernachlässigte die Firma, sodass Javier gezwungen war, sich um alles zu kümmern. Alejandro und ich folgten ihm kurze Zeit später nach. Gemeinsam brachten wir das Unternehmen wieder auf Kurs. Und dann – wir fingen gerade an, schwarze Zahlen zu schreiben – tauchte sie auf. Die Frau, die behauptete, unsere Schwester Laura zu sein.“
„Aber sie war es nicht?“
Luís schüttelte den Kopf. „Wir anderen trauten ihr von Anfang an nicht, doch Miguel, unser Vater, war außer sich vor Glück. Er wollte unsere Einwände nicht hören, und als er irgendwann verkündete, dass er vorhatte, dieser Hochstaplerin einen Teil der Firma zu überschreiben, sahen wir uns zum Handeln gezwungen. Wir beschlossen, jemanden zu engagieren, um die Vergangenheit unserer angeblichen Schwester zu durchleuchten. Doch die Betrügerin trickste uns aus. Sie flüsterte Miguel Lügen über uns ein, die er tatsächlich glaubte. Es kam zum Bruch zwischen Miguel und uns. Seit jenem Tag habe ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Es ist, als hätte ich keinen Vater mehr …“
Beth schluckte. In gewisser Weise fühlte sie sich an ihre eigene Vergangenheit erinnert. Auch sie hatte sich mit ihrem Vater überworfen – wenn auch aus anderen Gründen. Doch im Gegensatz zu Luís war ihr die Chance, sich mit ihm auszusprechen, nicht mehr vergönnt gewesen.
„Und wie lange ist das her?“
„Ein paar Jahre. Warum?“
„Nun, denkst du nicht … Na ja …“
„Ich weiß, was du sagen willst. Du findest, ich sollte über meinen Schatten springen und mich mit meinem Vater aussöhnen. Javier liegt mir damit auch ständig in den Ohren. Er versteht einfach nicht, dass ich es nicht kann . Miguels Misstrauen hat mich tief getroffen. Ich kann nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen.“
Beth nickte. „Das verstehe ich, aber
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