Romana Extra Band 3
sie geglaubt, dass ihr Leben einmal von einem Tag zum anderen so sehr auf den Kopf gestellt werden könnte. Und dann noch auf diese Weise! Das war mehr als ein Schicksalsschlag. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sich als Lüge herausgestellt, und sie wusste nicht mehr, wie sie ihre Gefühle einordnen sollte. Immer öfter fragte sie sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn die Ortegas sie nicht entführt hätten. Zumindest wäre sie bei den Santiagos aufgewachsen, bei ihren richtigen Eltern – aber wie sähe dann heute alles aus?
Jedenfalls würde ich nicht in dieser Lage stecken, in die mich die Ortegas gebracht haben …
Die Wut auf die Menschen, die sie großgezogen hatten, war auch der Grund gewesen, weshalb sie das Telefonat mit Alina so abrupt beendet hatte. Sie sorgte sich um Alina, ja – aber gleichzeitig brauchte sie im Augenblick Abstand zu ihr.
Aber vor allem brauchte sie Antworten auf die vielen Fragen, die ihr im Kopf herumgingen, und die sich allesamt um ihre richtigen Eltern, ihre richtige Familie drehten, die Santiagos. Was waren sie für Menschen, wer waren die Eltern, denen ihre Entführer sie im Alter von nur sechs Jahren entrissen hatten? Wie lebten sie, wie hätte ihr eigenes Leben bei ihnen ausgesehen? Und wie sehr hatten ihre leiblichen Eltern unter dem, was ihnen passiert war, gelitten?
All das konnte sie nur erfahren, wenn sie endlich die Gelegenheit erhielt, mit Gabriela und Miguel Santiago – und natürlich auch mit ihren Brüdern – zu sprechen. Doch bis dahin würde sie sich wohl noch einige Tage gedulden müssen, was erneut Angst in ihr hervorrief. Warum wollten die Santiagos diese Bedenkzeit? Waren sie sich doch nicht sicher, dass sie ihre verloren geglaubte Tochter wiedersehen wollten? Oder hielten sie sie für eine Betrügerin? Wenn dem so war, wusste Laura nicht, was sie tun sollte; es war ihr schlicht unmöglich zu beweisen, dass sie nicht Laura Ortega, sondern Laura Santiago heißen müsste.
Von plötzlicher Furcht erfasst, tastete sie nach dem kleinen silbernen Kreuz, das sie um den Hals trug, solange sie denken konnte. Ihr Glückbringer, der ihr schon in vielen Situationen geholfen hatte: vor Jahren bei ihrer mündlichen Schulabschlussprüfung, als sie so nervös gewesen war, dass sie erst kein Wort herausgebracht hatte. Und auch zuletzt bei dem tragischen Unglück.
Aber würde der Talisman ihr auch jetzt von Nutzen sein?
„Ach, hier stecken Sie!“ Fernando kam vom Haus her über den sattgrünen Rasen auf sie zu. „Juana erwähnte, dass Sie sich ein Buch aus der Bibliothek geholt haben.“ Er setzte sich neben sie. „Leider komme ich selbst nur selten zum Lesen. Was haben Sie sich denn Schönes ausgesucht?“
„Den Don Quijote “, antwortete Laura, und als Fernando verblüfft eine Braue hob, musste sie unwillkürlich lachen. „Was denn? Haben Sie etwa angenommen, ich würde nur kitschige Liebesromane lesen?“
„Das nicht gerade – allerdings muss ich gestehen, dass Sie die einzige Frau in meinem gesamten Bekanntenkreis sind, die sich für Miguel de Cervantes interessiert.“
„Nun“, entgegnete sie lächelnd. „Einmal ist immer das erste Mal, nicht wahr?“
„Aber wirklich in Ihre Lektüre vertieft schienen Sie mir nicht zu sein“, stellte Fernando fest. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Offenheit, aber Sie wirken niedergeschlagen. Möchten Sie darüber sprechen?“
„Ich weiß nicht …“, murmelte sie ausweichend.
Er lächelte aufmunternd. „Ach, kommen Sie schon! Vieles wird leichter, wenn man darüber redet.“
Jetzt musste auch sie lächeln. „Sie sprechen ja wie ein Seelsorger.“ Sie hob die Schultern. „Aber nein, es ist nichts Nennenswertes. Wahrscheinlich habe ich einfach ein wenig Heimweh …“
Fernando lachte leise. „Ob Sie es glauben oder nicht, aber so geht es mir jedes Mal, wenn ich Mallorca verlasse. Wissen Sie, was mir hilft, wenn das Heimweh mich überkommt?“
Sie hob fragend die Brauen.
„Ich gehe in den nächsten Supermarkt und hole mir sobrasadas .“ Immer noch lächelnd, musterte er sie. „Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an zu Hause denken?“
Laura dachte nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich weiß nicht recht“, sagte sie ein wenig ratlos. „Mir fallen tausend Dinge ein, wie soll ich mich da auf eines festlegen?“
„Schließen Sie einfach die Augen“, wies Fernando sie an. „Und dann sagen Sie mir, was Sie als Erstes vor sich sehen.“
Zu ihrer
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