Romana Extra Band 3
die unvorhergesehene Wendung der Dinge. Und sie musste zugeben, dass Fernando am Telefon reichlich nervös geklungen hatte. Irgendetwas stimmte nicht an der Geschichte, dass Laura noch Zeit brauchte. Nur was? Fernando war jemand, auf den man sich verlassen konnte, so gut kannte Maria ihn. Er war für sie der Sohn, den sie nie gehabt hatte. Vermutlich klammerte sie sich deshalb ein wenig zu sehr an ihn. Sie spürte schon seit Längerem, dass er sich von ihr zu lösen versuchte, und kämpfte mit aller Macht dagegen an.
Sie schüttelte den Kopf. Mit diesem Problem würde sie sich ein andermal befassen. Im Augenblick ging es einzig und allein um Laura. Und darum fasste Maria einen Entschluss.
„Ihr habt sicher recht“, räumte sie ein. „Aber ich halte es für falsch, wenn ihr einfach hinfahrt.“
„Ach, und warum?“, brauste Miguel auf, aber das lag in seiner Natur. So kannte Maria ihren Schwager, und bisher hatte sie noch immer mit ihm umgehen können.
„Nun versetz dich doch einmal in Lauras Lage, Miguel! Falls sie wirklich noch etwas Zeit braucht, würde sie sich überrumpelt fühlen, wenn du einfach bei ihr auftauchst.“ Sie musterte ihn scharf. „Und du willst das arme Mädchen doch nicht verschrecken, oder? Denk nur daran, was sie in der letzten Zeit mitgemacht hat.“
„Maria hat recht“, beteiligte sich nun erstmals Gabriela an der Diskussion und sah ihren Mann bittend an. „Denk an Lauras Wohl, Miguel. Sie ist unsere Tochter!“
Miguel musterte seine Frau einen Moment lang schweigend, dann wandte er sich wieder seiner Schwägerin zu. „Und was schlägst du stattdessen vor?“
„Ich werde hinfahren“, erklärte Maria entschlossen. „Gleich morgen werde ich zu Fernando fahren, um mir ein Bild von der Lage zu machen – und um persönlich mit Laura zu sprechen …“
5. KAPITEL
„Ja, mir geht es gut, Ma …“ Laura biss sich auf die Unterlippe. „Wirklich, bei mir ist alles in Ordnung. Und dir wird es bestimmt auch bald besser gehen. Hör zu, Alina, ich muss Schluss machen. Adiós! “
Rasch beendete sie das Gespräch und verstaute ihr Handy wieder in ihrer Hosentasche. Es war ein Fehler gewesen, Alina im Krankenhaus anzurufen, das wusste sie jetzt, hatte es sie doch nur unnötig in Aufruhr versetzt.
Aber als sie heute Morgen erwacht war, hatte sie ein eigentümliches Gefühl verspürt, ohne es zunächst richtig einordnen zu können. Ein Gefühl der Leere, der Sehnsucht … Erst nach einer Weile war ihr bewusst geworden, dass es sich dabei um nichts anderes als Heimweh handelte. So wie früher im Schullandheim, nur tausendmal stärker. Früher hatte sie immer geglaubt, dass sie ihr Zuhause vermisste, ihr Zimmer, ihr persönliches Umfeld. Heute wusste sie, dass man bei Heimweh nicht etwas vermisste, sondern jemanden . Und in ihrem Fall waren das die Personen, die sie bis vor Kurzem für ihre nächsten Verwandten gehalten hatte.
Alina und Diego Ortega.
Deine angeblichen Eltern …
Sie hätte wütend und enttäuscht sein sollen und fragte sich, was unbeteiligte Menschen wohl sagen würden, wenn sie ihnen ihre Geschichte erzählte. Würden sie ihr raten, Anzeige zu erstatten? Gut möglich, dachte sie und rief sich in Erinnerung, wie oft sie selbst schon überlegt hatte, zur Polizei zu gehen. Immerhin waren die Ortegas Kindesentführer.
Doch ehe sie mit irgendjemand anderem über das alles sprach, wollte sie die Santiagos wiedersehen. Sie richtig kennenlernen. Mit ihnen reden. Alles Weitere war erst einmal unwichtig und würde sich mit der Zeit ergeben.
Den Vormittag hatte Laura in Fernandos Bibliothek verbracht und war schließlich mit einer gebundenen Ausgabe des Don Quijote in den Garten gegangen und hatte sich auf die Bank unter der alten Eiche gesetzt, auf der sie an ihrem Ankunftstag schon einmal gesessen hatte. Zunächst unschlüssig, ob sie Alina anrufen sollte oder nicht, hatte sie es schließlich nicht mehr ausgehalten vor Sorge um die Frau, von der sie vor Jahren entführt worden war, und Alinas Nummer gewählt.
Der Zustand der Kranken hatte sich seit Lauras Abreise nicht verändert. Sie konnte sprechen, wenn auch mit Mühe, und laut ihrer Aussage gab es keinerlei Neuigkeiten von den Ärzten. Nicht ein Wort der Klage oder der Sorge um sich selbst war ihr über die Lippen gekommen.
Stattdessen hatte sie in allen Einzelheiten wissen wollen, wie es Laura ging.
Laura atmete tief durch. Langsam kam ihr die Situation, in der sie sich befand, wie ein Albtraum vor. Nie hätte
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