Romana Extra Band 6
warum sie sich so zerstritten haben?“
Jahrelang hatte Rosalie genau über diese Frage nachgegrübelt. Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Deshalb hatte ihre Mutter nie über ihren Vater sprechen wollen. Weil dieser gar nicht wusste, dass er Vater geworden war. Und es erklärte auch den unversöhnlichen Streit zwischen ihrer Mutter und ihrem Großvater.
Er hatte von Sandrine verlangt, reinen Tisch zu machen, und als sie sich weigerte, war eines zum anderen gekommen. Aber nicht François hatte seine Tochter samt Enkelin fortgeschickt. Nein, Sandrine war so wütend auf ihren Vater gewesen, dass sie Rosalie einfach geschnappt und mitgenommen hatte.
Rosalie ging zur Tür, doch bevor sie hindurchging, drehte sie sich noch einmal um. „Entschuldige bitte, aber das muss ich erst einmal verdauen. Warte mit dem Essen nicht auf mich, es kann spät werden.“
Die kühle Morgenluft im Rosengarten tat ihr gut. Dennoch schwirrte ihr noch immer der Kopf, als sie durch die duftenden Rosenkaskaden spazierte. Gedankenverloren strich sie mit den Fingerspitzen über die zarten Blüten.
Was sie soeben erfahren hatte, stellte alles auf den Kopf. Ihr Vater war gar nicht davongelaufen. Er hatte nie erfahren, dass sie seine Tochter war. Und er würde es auch niemals erfahren, denn er war tot.
„Verdammt, maman !“ In hilfloser Wut ballte Rosalie die Fäuste. „Du hättest es mir sagen müssen …“
Sie spürte, dass ihre Wangen feucht waren, und als sie mit dem Handrücken darüberfuhr, erkannte sie, dass sie weinte. Tränen der Bitterkeit und der Trauer, aber auch der Erleichterung. Endlich wusste sie, dass ihr Großvater sie nicht verstoßen hatte. Zwar tat es weh zu wissen, dass sie sich niemals mehr mit ihm aussöhnen konnte, doch zumindest fühlte sie sich jetzt nicht mehr so verschmäht und ungeliebt.
Aber wie sollte es nun weitergehen? Hatte Adrienne recht, und die Rosenzucht war nichts für sie? Womöglich war es tatsächlich eine naive Idee gewesen. Konnte man einfach so alle Brücken hinter sich abbrechen und woanders noch einmal ganz von vorn anfangen? War das nicht einfach nur ein schöner Traum? Einer von der Sorte, die doch nie in Erfüllung gingen?
Natürlich konnte sie die Roseraie Baillet behalten. Die finanziellen Mittel dazu besaß sie, schließlich verdiente sie mit ihren Modeljobs nicht schlecht, und außerdem hatte Sandrine ihr einiges hinterlassen. Aber darum ging es nicht. Wer immer die Rosenzucht weiterführte, sollte mit ganzem Herzen bei der Sache sein. Er sollte das, was er tat, lieben. Konnte sie diese Person wirklich sein? Oder würde sie ihren Entschluss nach kurzer Zeit bereuen und sich nach ihrem alten Leben zurücksehnen?
Es gab eine Sache, die sie erledigen musste, bevor sie eine endgültige Entscheidung traf. Sie musste jemandem einen Besuch abstatten. Der Person, auf deren Rat sie sich stets blind hatte verlassen können. Sie holte eine Rosenschere aus dem Schuppen hinter dem Haus und schnitt eine der schönsten und prachtvollsten gelben Rosen ab, mit der sie dann zu ihrem Wagen ging und sich auf den Weg in Richtung Ortschaft machte.
Der Friedhof von Laurins-les-Fleurs lag im Schatten der alten Kirche. Ganz hinten, direkt an der Mauer, fand Rosalie das Grab, nach dem sie gesucht hatte. Blumen in allen Farben blühten darauf, ebenso wie sorgsam gestutzte und in Form gebrachte Buchsbäumchen. Man sah dem Grab an, dass jemand – vermutlich Adrienne – es mit viel Liebe pflegte und instand hielt.
Das hätte dir gefallen, grand-père , dachte Rosalie mit Tränen in den Augen. Sie ging in die Hocke und legte die mitgebrachte Rose quer auf einem der Trittsteine ab. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Wie sehr sehnte sie sich danach, noch einmal – nur ein einziges Mal! – mit ihm zu sprechen. Es gab so viel, über das sie sich gern noch mit ihm ausgetauscht hätte. Er hätte gewusst, was zu tun war. Ganz gewiss.
„Ach, grand-père , was soll ich nur tun?“, flüsterte sie. „Kannst du mir keinen Rat geben?“
Sie lauschte angestrengt und hörte das leise Rauschen der Baumkronen. Der Wind trug die Klänge einer Klaviersonate herüber, und irgendwo kläffte ein Hund. Die sehnlich erwartete Antwort auf ihre Frage blieb aus. Also schaute Rosalie tief in sich hinein, um zu ergründen, was sie wirklich wollte.
Rosalie schloss die Lider. Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorüber. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen, wie sie mit ihrer Freundin Juliette über die
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