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Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)

Titel: Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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rede ich? Seit einigen Jahrzehnten gibt es eine nachlassende Nachfrage nach einfacher, gering qualifizierter Arbeit. Eine neue soziale Schicht ist entstanden, die lebenslang Dauerarbeitslosen. Arbeit für fast alle wird es vielleicht nie wieder geben. Es ist auch nicht vorstellbar, dass jeder einen Hochschulabschluss erwirbt, und wenn es so wäre, dann gäbe es eben massenhaft arbeitslose Hochschulabsolventen. Bildung bedeutet, anders als oft behauptet wird, heute nicht mehr automatisch Aufstieg oder Karriere, davon kann das akademische Prekariat ein Lied singen, eine andere soziale Schicht, die gerade entsteht.
    Die Dauerarbeitslosen verhalten sich durchaus rational, wenn sie sich in ihrer Situation einrichten und wenn viele von ihnen ihre Lebensfreude im Alkohol, im ungebremsten Medienkonsum oder auch in der Kriminalität suchen. Haben sie eine Alternative? Würde ihnen ein Hauptschulabschluss etwas bringen? Braucht sie jemand? Bei Marx und Engels kann man lesen, wie das Industrieproletariat zu Beginn der Industrialisierung mühsam diszipliniert wurde. Es ist dem Menschen nicht selbstverständlich, morgens um sechs Uhr aufzustehen und ein Leben im Takt der Maschinen zu führen. Jetzt braucht man bei uns das Proletariat nicht mehr, das Proletariat wohnt anderswo, und die Mühen der Selbstdisziplin sind für einen Teil der Bevölkerung sinnlos geworden, auch die Mühen der Erziehung.
    Dazu kommen die Folgen einer Einwanderungspolitik, die den Einwanderern jahrzehntelang gepredigt hat, dass sie nur auf der Durchreise seien und dass Integration, somit auch Bildung, der Mühe nicht wert ist. Bis man plötzlich begann, mit vorwurfsvollem Ton ihnen das genaue Gegenteil zu sagen. Eine gewisse Rolle spielt auch der Zerfall der verbindlichenWertesysteme. In der klassischen Bildungsbürgerfamilie hat man nicht aus Karrieregründen Latein oder Geigespielen gelernt, sondern weil man Bildung für einen Selbstzweck hielt, für etwas Schönes, Erstrebenswertes, eine bewusstseinserweiternde Voraussetzung für ein gutes Leben, ob mit oder ohne Geld. Diese Idee verschwindet.
    Ich bin ein bisschen sehr theoretisch geworden. Was heißt das alles konkret für die Schulen?
    Das deutsche Bildungssystem ist nicht so undurchlässig, wie behauptet wird. 40 Prozent der bayrischen Studienanfänger kommen über einen anderen Weg als das klassische Abitur, jeder Handwerksmeister mit Hauptschulabschluss darf heute studieren. Manche Menschen sind Spätentwickler und haben erst mit 20 die Motivation, die nötig ist, für sie ist die Realschule genau das Richtige.
    Wenn das deutsche Bildungssystem heute nicht einmal mehr in der Lage ist, jedem Lesen und Schreiben beizubringen, dann auch deshalb, weil Bildung für zehn oder 15 Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden ist. Egal, wie sehr sie sich anstrengen, es gibt für sie keine Chancen. Früher musste man als Arbeitsloser lesen können, um sich nicht zu langweilen, auch das ist dank des Fernsehens nicht mehr nötig. Es ist angenehmer und vernünftiger, mit Hartz IV morgens im Bett liegen zu bleiben, statt um sechs für einen Job aufzustehen, der 100 Euro mehr bringt als die staatliche Unterstützung.
    Jetzt wird die Hauptschule abgeschafft, aber die Hauptschüler kann man nicht abschaffen, sie bleiben. Sie haben nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen. Sie werden jetzt ihre Hoffnungslosigkeit und ihre berechtigte Wut in die ehemaligen Realschulen tragen.
    Ich habe keine Lösung. Immerhin glaube ich zu wissen, dass die Gesamtschule die Lage nicht bessern, sondern eher verschlimmern wird, weil sie etliche bisher immer noch funktionierende Realschulen zerstören und damit Tausende ihrer Lebenschancen berauben wird. Sicher, man könnte die »schwierigen Schüler« in sehr kleinen Gruppen intensiv betreuen, man könnte versuchen, all das nachzuholen, was in ihren ersten Lebensjahren versäumt wurde, das würde in einigen Fällen auch gelingen. Man müsste differenzieren, statt alles in einen Topf zu werfen. Aber wo soll das Geld herkommen?
    Ich habe keine Lösung, aber ich ahne, dass man sie nicht findet, indem man, wie seit Jahren, an unserem Bildungssystem herumbaut, Schulformen umbenennt und, wie ein ratloser Roulettespieler, die Chips mal hierhin, mal dorthin schiebt. Wenn es nicht genug einfache oder handwerkliche Arbeit mehr gibt für die vielen, die, aus welchem Grund auch immer, für andere Arbeit ungeeignet sind – wie soll deren Leben dann aussehen? Ist es gut, sie mit 20 

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