Romantische Nächte im Zoo: Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land (German Edition)
Jahren zu lebenslänglichen Frührentnern zu machen, auf niedrigstem finanziellem Niveau, oder hat diese Gesellschaft ihnen vielleicht doch etwas Besseres anzubieten? Wer diese Frage beantworten kann, der hat auch die deutsche Bildungskrise gelöst.
Bad Wörishofen
Die Rollstühle sind das Erste, was auffällt. In der kleinen Fußgängerzone sind immer vier oder fünf davon unterwegs. In den Rollstühlen sitzen Leute von 80, 90 Jahren oder mehr, geschoben werden sie von Sechzigjährigen, ihren Kindern vermutlich. Sind Anni und Gudrun auch dabei? In der neuen Nummer des Stadtjournals werden Gudrun Edel und Anni Grabowski dafür geehrt, dass sie seit 70 Jahren hier Kururlaub machen. Es gibt Fotos der beiden Damen, die jetzt ungefähr 100 sein dürften, ihr genaues Alter verschweigen sie kokett. Sie lächeln und sehen bemerkenswert fit aus. Ein paar Jahre kommen Gudrun und Anni bestimmt noch.
Es ist so leise in der Stadt – man denkt unwillkürlich, aha, Sonntag. Aber das stimmt nicht. Die Läden sind geöffnet, manchmal zumindest. Bizarre Zeiten stehen an den Ladentüren, zum Beispiel »9 Uhr bis 12.15 Uhr, 14.30 bis 18 Uhr«. Hier haben die Kunden Zeit, auf Sonderwünsche der Verkäufer einzugehen.
Unglaublich viele Apotheken. Schmuckgeschäfte ohne Ende. Ein Sockenstricker. Ein anderer Laden verkauft Betteinlagen aus Kupfer, zum Schutz vor Erdstrahlen. Auffällig rücksichtsvolle Autofahrer. Alle fahren Schritttempo, überall.
Um 18.30 Uhr gehen plötzlich in etlichen Schaufenstern die Lichter aus. Die Rollstühle verschwinden. Dann läuft überhaupt nichts mehr.
Die Bewohner kucken ein bisschen misstrauisch. Am zweiten Tag aber wird man auf der Straße plötzlich von Unbekannten gegrüßt. Es hat sich herumgesprochen, wer man ist. Wie auf dem Dorf. Aber es ist eine Stadt, 8000 Einwohner. Vielleicht die Stadt mit den ältesten Einwohnern in Deutschland. Laut Statistik ist die Hälfte über 50, ein Drittel über 65. Optisch wirkt die Stadt aber noch älter als in der Statistik.
Wo sind die Jungen? Sie arbeiten in den Kliniken. Ein paar sitzen im Internetcafé. Eine Kneipe für alle unter Sechzigjährigen gibt es auch, das »Charlie II«.
Wird bald ganz Deutschland so sein wie Bad Wörishofen?
In der Liste der »hundert besten Deutschen«, beim ZDF, steht Sebastian Kneipp immerhin auf Platz 67. Besser als Schiller. Aber schlechter als Dieter Bohlen. Sebastian Kneipp, genannt Baschtl, war ein armer Webersohn, der unbedingt Pfarrer werden wollte. Erst mit 23 Jahren, nach langem Kampf, schaffte er es, einen Platz im Gymnasium zu bekommen. Aber er kriegte die Schwindsucht. Kneipp kurierte sich selbst, mit Hilfe kalter Wassergüsse. Er wurde ein großer Heiler. Einige hielten ihn für einen Kurpfuscher, der Kirche war die Sache eher peinlich. Also schickten sie ihren Baschtl in die Verbannung, in den hintersten, abgelegensten und ödesten Winkel von Bayern. Dorthin, wo du lebendig begraben bist. Dieser Ort hieß Wörishofen.
Mit Kneipp hatte Wörishofen das große Los gezogen. 1884 kamen 40 Touristen, wegen des verrückten Wasserheilers. 1890 waren es schon 5000. Heute hängen seine Bilder überall in der Stadt, in jedem Geschäft, jeder Kneipe. Er ist in Wörishofen so allgegenwärtig wie Mao Tse-tung einst in China oder Lenin in der DDR. Und wie Lenin hat er eine MengeSprüche hinterlassen. Sie hängen ebenfalls überall. Kneipp sagt: »Im Wasser ist Heil.« Und: »Saufen wollen sie alle. Aber sterben will keiner.«
Das beste Jahr in der Gästestatistik war 1989. Seitdem geht es bergab.
Bad Wörishofen ist der berühmteste deutsche Kurort. Viele ehemalige Kurgäste haben hier Wohnungen gekauft und sich dauerhaft niedergelassen, deswegen ist das Durchschnittsalter auch unter den Einheimischen so hoch. Kurorte sind nun mal etwas für ältere und nicht mehr ganz gesunde Leute. Davon gibt es in Deutschland eindeutig immer mehr. Also müsste es den Kurorten prima gehen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kassen haben bei den diversen Gesundheitsreformen ihre Zuschüsse zur Kur immer weiter zurückgefahren. Die Alten haben weniger Geld als früher oder geben es nicht mehr so gern aus. Im Osten, Tschechien und Ungarn, gibt es preisgünstige Konkurrenten. Alles läuft gegen die Kurorte, alles, bis auf die Bevölkerungsstatistik.
»Wir haben eine Monostruktur«, sagt der Bürgermeister. Der Bürgermeister von Bad Wörishofen ist eine echte Überraschung, denn er ist Ende 30. Ein dynamischer Typ. Nach der
Weitere Kostenlose Bücher