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Romanzo criminale

Romanzo criminale

Titel: Romanzo criminale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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die Via Emilia in Richtung Bologna brauchte er siebzehn Minuten. Der Nebel machte ihm nichts aus. Er wurde fett und schlief. Er wohnte in der Kaserne. Auf der Piazza standen Pappeln, die im Frühjahr ihre Samen auswarfen. Der Hof war von weißem Flaum übersät. Wenn Scialoja aufwachte, hatte er geschwollene Augen und Kopfweh. Er hatte ein Mädchen kennengelernt. Sie hatte ihn am Ausgang eines Kinos angesprochen, wo er sich
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von Louis Malle angesehen hatte. Sie hieß Marilena und unterrichtete an einer technischen Oberschule. Sie sagte, sie sei Christdemokratin. Sie sagte, wer in Modena auf die Welt gekommen sei oder hier länger als ein halbes Jahr wohne, hasse am Ende die Kommunisten. Sie sagte, alle, die ein wenig Grips hätten, landeten entweder in der Pfarre oder in den Bergen, wie die alten Partisanen. Sie sagte, man brauche sich doch nur umzusehen, um zu verstehen, warum die Brigate Rosse ausgerechnet von hier kamen. Am Wochenende gingen sie in die Diskothek. Sie liebten sich bei ihr zu Hause, in der Altstadt. Marilena war jahrelang bei einem Psychoanalytiker in Behandlung gewesen, der gerade sehr in war. Alles, was ihm als fantasievoll erschien, hielt sie für pervers. Es gab keine Hingabe, keine Leidenschaft zwischen ihnen. Sex wurde zu einer Art Leibesübung. Scialoja begann sich langsam an die Idee einer fetten und farblosen Zukunft zu gewöhnen. Er würde die Welt niemals verändern, weil die Welt nicht verändert werden wollte. Eine brave Freundin, einen Routinejob: Das hatte das Schicksal für ihn bestimmt. Da konnte er auch gleich resignieren. Als ihm sein Chef am 2. August den Auftrag gab, eine Mannschaft mit drei unerschrockenen Männern und zwei Rettungswagen zusammenzustellen, war Scialoja innerlich bereits tot.
    – Am Bahnhof von Bologna ist ein Gaskessel explodiert. Ein großes Chaos. Generalmobilmachung.
    Die Geschichte vom Gaskessel hielt sich bis zum Abend, am nächsten Tag zu Mittag waren die Dinge klar. In Scialojas Truppe war ein Unteroffizier, der beim Heer Sprengmeister gewesen war. Ein Blick auf den Krater hatte ihm genügt, und er hatte gesagt:
    – Das war kein Gas. Das war eine Bombe.
    Der Bahnhof war aufgerissen. Sirenen heulten. Soldaten und freiwillige Helfer mit Schutzmasken im Gesicht gruben Seite an Seite im Schutt, auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Ein paar heulten, die meisten strengten sich noch mehr an, um Wut und Entsetzen zu verdrängen. Fernsehteams kamen. Die Angehörigen belagerten die Gleise. Ein böses, verräterisches Wort machte die Runde: Blutbad. Die Zeiger der großen Uhr auf dem Piazzale Ovest waren um 10 Uhr 25 stehengeblieben. Der Zeitpunkt, an dem Italiens Herz zu bluten begonnen hatte. Scialoja gönnte sich eine Zigarette. Eine lästige Journalistin wich ihm nicht mehr von der Seite. Scialoja schickte sie zum Teufel und setzte sich wieder die Gesichtsmaske auf. Unter zwei zerbrochenen Querbalken, die sich wunderbarerweise so verschränkt hatten, dass sich darunter ein Hohlraum gebildet hatte, hörte er ein schwaches Jammern. Scialoja stürzte hin. Er sah eine kleine, zerkratzte Hand, ergriff sie, zog daran. Die Balken hielten stand. Das kleine Mädchen stand unter Schock. Aber es atmete. Es sah ihn aus riesigen, verwunderten Augen an und atmete. Scialoja nahm es auf den Arm und übergab es einer Krankenschwester. Das Mädchen war strohblond und verstand kein Italienisch. Ein hochrangiger Offizier der Carabinieri hielt ihn an.
    – Sie! Gehen Sie augenblicklich zu Gleis eins. Es muss eine Eskorte für die Behörden zusammengestellt werden.
    Scialoja schickte auch ihn zum Teufel. Er war fertig, er war verschwitzt, er stank. Aber er spürte weder Erschöpfung noch Unbehagen. Er hatte zu lange geschlafen. Mit der Lethargie war es nun vorbei. Wie ein Tier verfolgte Scialoja die Spur einer bitter riechenden Mischung aus Schießpulver und Blut. Scialoja folgte dem betäubenden Geruch des Todes, in der absurden Überzeugung, dass es noch Opfer gab, die man vor der Verwesung retten, dass es noch Kinder gab, die man ihren Müttern zurückgeben, zerfetzte Körper, die man wieder zusammensetzen konnte. Er rettete eine alte Frau, die einen verbrannten Rosenkranz an die Brust drückte. Er zog eine zerfetzte Leiche aus dem Schutt, deren Glieder er pietätvoll einsammelte. Er schloss einem Mädchen ohne Arme und mit blutleeren rosa Lippen die Augen. Er vertrieb einen streunenden Hund, der sich neugierig genähert hatte. Als es Nacht wurde, grub man

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