Romeo für immer, Band 02
Hocker sitze und male, gerate ich nicht außer Atem. Ich könnte ewig so weiterlaufen und mir die Seele aus dem Leib rennen, bis ich mich in Luft auflöse.
»Jetzt komm schon. Lass mich dir wenigstens deine Tasche geben.«
Ich werde langsamer. Meine Tasche. Da ist mein Schlüssel drin. Meine Mutter hat heute Abend bis elf Spätschicht im Krankenhaus. Ohne Schlüssel müsste ich stundenlang vor der Haustür sitzen und auf sie warten. Und anschließend würde ich ihr erklären müssen, was passiert ist. Sie wäre enttäuscht von mir, weil ich mich wieder einmal nicht normal verhalten habe, und würde mir einen Vortrag halten. Sie würde mir erklären, dass ich mich mehr anstrengen und selbstbewusster werden muss, statt immer nur zu träumen. Und so weiter und so fort, bis ich nur noch schreien will. Ich würde alles dafür tun, um mir das zu ersparen.
Ich bleibe stehen. Dylan bremst neben mir. Das Tuckern des Motors verwandelt sich in ein seltsames Klappern, und mir steigt der Geruch der Abgase in die Nase. Ich schniefe, wische mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und reiße mich zusammen. Ich werde mir die Tasche schnappen und losrennen. Ich werde ihn nicht noch einmal an mich heranlassen. Er legt mich nicht noch einmal rein.
Ich drehe mich zum Beifahrerfenster und strecke meine Hand aus. Dylan lehnt sich über den Sitz und drückt mir mein Handy in die Hand. Verwirrt starre ich es an; es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass es nicht das ist, was ich erwartet habe.
»Gib mir bitte meine Tasche«, sage ich und bin froh, dass meine Stimme fest klingt.
»Noch nicht!« Dylan sieht mich an, seine dunklen Augen glitzern. »Mach dein Handy schon mal aufnahmebereit.«
»Jetzt gib sie schon her!«
»Was jetzt kommt, möchtest du bestimmt nicht gern verpassen.« Er zwinkert mir zu und grinst. »Besser, du nimmst es auf.«
Bevor ich ihm die passende Antwort geben kann, ist er ausgestiegen und schlägt die Fahrertür hinter sich zu. Er geht mit meiner Tasche vors Auto, lässt sie fallen und weicht ein paar Schritte zurück, bis er völlig vom Licht der Scheinwerfer erfasst wird. Das Scheinwerferlicht ist so hell, dass ich unter seinem blauen Hemd den Rand seines T-Shirts erkennen kann. Seine blasse Haut leuchtet im Scheinwerferlicht beinahe weiß. Er ist blass wie ich, aber durch seine dunkelbraunen Haare, die ihm in die Stirn fallen, und seine fast schwarzen Augen wirkt seine Blässe dramatisch, nicht langweilig und unscheinbar. Wenn ich an seiner Stelle dort stehen würde, würden meine Haut und meine Haare zu einer einzigen faden Fläche verschwimmen, und meine blauen Augen würden langweilig und grau aussehen. Ich wäre noch hässlicher, als ich es ohnehin bin.
Dylan dagegen sieht richtig gut aus, sehr gut sogar. Das lässt sich nicht leugnen, egal, wie sehr ich ihn hasse.
»Ich fange jetzt an.« Er stemmt die Hände in die Hüften.
Ich verschränke trotzig meine Arme vor der Brust und schaue zu Boden.
»Hast du vorhin nicht gesagt, dass du mich fertigmachen willst?«, fragt er. »Ich werde dir jetzt alles geben, was du dazu brauchst. Du wirstdich nachher schwarzärgern, wenn du es nicht aufgenommen hast.«
Seufzend klappe ich mein Handy auf. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber es ist offensichtlich, dass er mir weder meine Tasche noch meine Schlüssel zurückgeben wird, wenn ich nicht mitspiele.
Ich beginne zu filmen und betrachte den winzigen Dylan auf meinem Handydisplay. Es fällt mir leichter, die Sache durchzustehen, wenn ich meinen Blick ausschließlich auf den Mini-Dylan in meinem Handy richte. Ich tue einfach so, als würde ich mir einen Film anschauen, als sei der Junge, der jetzt in die Kamera sieht, ein Schauspieler und nicht der gemeine Lügner, der eben noch seine Hände auf meinem Körper hatte und von dem ich gerade meinen ersten Kuss bekommen habe. Als sei er nicht derjenige, der mir Hoffnung gemacht hat auf etwas, was ich doch nie haben werde.
»Filmst du?«, fragt er. Ich nicke. Ich weigere mich zu sprechen oder zu reagieren, ich will mich von ihm nicht wieder zur Witzfigur machen lassen.
»Hallo, ich bin Dylan Stroud. Heute Abend hatte ich meine erste Verabredung mit Ariel. Wohl auch die letzte, weil … ich ein Scheißkerl bin.« Er lacht, aber es klingt nicht lustig. »Ich habe mit ein paar anderen dämlichen Scheißkerlen eine bescheuerte Wette abgeschlossen und … damit etwas zerstört, was ich eigentlich nicht zerstören wollte.«
Der Junge auf dem Display
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