Romeo für immer, Band 02
ich geglaubt habe, es nie wieder fühlen zu können. Das Leben! Das wahre Leben, nicht die Schattenwelt, in der ich so lange gefangen war. Ich atme tief ein und halte die Luft an, bis mir die Lunge schmerzt, dann lasse ich sie mit einem zufriedenen Seufzen entweichen.
Neben mir, auf dem Beifahrersitz, gibt jemand ein Geräusch von sich, das einem Knurren gleicht.
Ich bin nicht allein. Ich drehe den Kopf und sehe in die unglaublich großen blauen Augen von Ariel Dragland. Sie kauert mit verschränkten Armen in ihrem Sitz, sieht mich mit unverhohlenem Hass an und nestelt mit ihren langen, dünnen Fingern an ihrem Kragen. Ich spüre, wie Dylans Erinnerungen an sie in mich hineinströmen. Es ist ein ganz neues, sonderbares Gefühl, nach so vielen Jahren in den leeren Körpern der Toten.
Als Söldner habe ich in unzähligen toten Körpern gelebt, und doch war es immer das Gleiche. Jeder dieser Körper war ein Gefängnis, das mich von der Welt abschirmte. Aber jetzt spüre ich nicht nur all meine Sinne und meine Menschlichkeit, sondern ich habe auch Zugang zu den Gedanken und Gefühlen des Menschen, in dessen Körper ich mich befinde. Mein letzter Aufenthalt in diesem Körper endete mit dem Tod, doch jetzt und hier lebt Dylan noch, und er wird wieder in seinen Körper zurückkehren, wenn ich meine Arbeit beendet habe. Solange wird er durch die Nebel des Vergessens wandern, wo auch ich mich in Zukunft zwischen meinen Einsätzen für die Mächte des Guten und des Lichts aufhalten werde.
Vorausgesetzt, ich stelle die Amme und die Botschafter zufrieden.
Und das werde ich. Ich muss! Denn ich kann nicht wieder dieses abscheuliche Wesen sein. Ich kann auf keinen Fall zurückgehen.
Ich konzentrierte mich auf Dylans Erinnerungen.
Er verachtete Ariel für ihre Schwäche. Dafür, dass sie eine so leichte Beute war, ein williges Opfer. Das Shirt, das sie trug, machte sie hübscher, dachte er. Das machte es ihm leichter, die Wette zu erfüllen und den Schulfreak zu verführen. Er hätte es auch fast geschafft und beinahe fünfhundert Dollar gewonnen. Wenn Jason ihm keine SMS geschickt hätte. Und vor allem: wenn Ariel sie nicht gelesen hätte.
Aber sie hatte sie gelesen. Und war ziemlich sauer geworden. Das zornige, beinahe irre Funkeln in ihren Augen hatte sogar einem jungen Schurken wie Dylan Stroud Angst gemacht. Vielleicht war Ariel ja wirklich verrückt.
Ich werfe ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Verrückt ist relativ. Aus meiner Sicht ist Ariel ziemlich normal. Aber sehr wütend.
Und schneller, als man denkt.
Ehe ich mich versehe, greift sie mir ins Steuer und reißt es nach rechts. Ich fluche in mich hinein und verstehe plötzlich, wieso die Amme so heimtückisch gelächelt hat. Der Wagen schießt auf die Schlucht zu, in der Dylan starb, als ich zum ersten Mal in seinen Körper geschlüpft bin.
Man hat mich in die Vergangenheit zurückgeschickt, um einem Mädchen den Hof zu machen, das den Körper hasst, in dem ich stecke. Selbst wenn wir diesen Unfall überleben, bin ich geliefert. Sie wird mich niemals lieben.
Falsch! Sie wird Dylan niemals lieben. Aber ich bin nicht er. Ich bin ein anderes Scheusal, eines mit liebevollen Worten und sanften Händen.
Mit mehr oder weniger sanften Händen. Ich reiße Ariel das Steuer aus der Hand und lenke mit gerade so viel Widerstand gegen, dass der Wagen langsamer wird. Wir knallen gegen die Leitplanke, prallen ab und landen wieder auf der Straße. Das Heck des Wagens bricht aus und rutscht über die Mittellinie, bevor er schließlich zum Stehen kommt.
Zuerst sind nur unsere keuchenden Atemzüge zu hören. Es hat uns beiden die Sprache verschlagen, wie knapp wir dem Tod entronnen sind.
Ariel findet sie als Erste wieder. »Ich hasse dich! Ich werde dich fertigmachen, Dylan Stroud. Du wirst schon sehen!« Und dann springt sie auch schon aus dem Auto und läuft die Straße Richtung Los Olivos hinunter. Ihr blondes Haar glänzt silbrig im Mondschein.
Ich schaue in den Rückspiegel und sehe ihr nach. In meinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Sie ist einfach herrlich in ihrem brennenden Hass. Eigentlich ist es schade, dass ich dieses Feuer löschen und mit einem sanften Kuss in wahrer Liebe ersticken muss.
»In wahrer Liebe!«, singe ich beschwingt und schalte das Radio ein, bevor ich den Wagen wende und hinter dem Mädchen herfahre, das nicht ahnt, dass es mich lieben wird.
3
Ariel
H asse – ihn – hasse – ihn – hasse – ihn. Meine Füße geben den Takt
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