Romeo für immer, Band 02
empfindlich gestört habe. Der Seelengeist ist verflucht und bösartig, weil meine Seele verflucht und bösartig ist.
Nie hätte ich gedacht, dass ich mich noch einmal in einem anderen Licht betrachten könnte, niemals. Aber nun …
»Wer ist denn der Junge auf dem Bild unten links?« Ich drehe mich gerade in dem Moment um, als Ariel ihre Jeans zuknöpft. Unsere Blicke treffen sich, und ein geheimes Erkennen blitzt zwischen uns auf.
»Verzeihung!« Ich wende mich erschrocken ab.
»Schon gut. Ich weiß, dass du nicht … « Sie räuspert sich. »Es ist niemand Bestimmtes. Er ist eine reine Fantasiegestalt.«
Der Junge ist ihrer Fantasie entsprungen. Sie hat einen Jungen in einem altertümlichen Umhang gemalt, der auf einem Hügel steht, die Schultern gebeugt vor Kummer und Scham. Es kann sich nur um einen Zufall handeln, was sonst? Doch es fällt mir schwer, den Blick von dem Bild abzuwenden, selbst als es an der Tür klopft und Ariel raunt: »Unters Bett, schnell!«
»Erzähl ihr, dir sei speiübel. Sie soll in der Schule anrufen und dich entschuldigen«, flüstere ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Wir fahren nach Santa Barbara ins Kunstmuseum.«
»Wie bitte?«
»Stell dich krank, und lass uns die Schule schwänzen. Ich möchte gern mit dir zusammen ein paar schöne Dinge sehen.«
Sie schüttelt den Kopf, aber ich merke ihr an, dass sie in Versuchung ist. »Ich kann nicht. Ich … «
»Ariel«, ruft ihre Mutter vom Flur aus. »Bist du wach? Es ist schon Viertel nach sieben.«
»Einen Moment noch, Mom«, antwortet Ariel. »Schnell, unters Bett. Bitte!«, artikuliert sie lautlos, während sie rückwärts zur Tür geht. Ich werfe mich auf den Boden und rolle mich gerade in dem Moment auf den staubigen Teppich unters Bett, als sich die Tür öffnet und Ariel ihrer Mutter verschlafen einen »Guten Morgen« wünscht.
»Guten Morgen.«
»Ich dachte, du wolltest ausschlafen, Mom.«
»Das wollte ich eigentlich auch, aber etwas hat mich geweckt. Und weil ich nicht mehr einschlafen konnte, bin ich aufgestanden.« Sie schweigt, dann ruft sie überrascht: »Da liegt ja deine Tasche! Hast du nicht gesagt, du hättest sie verloren?«
»Ähm, nein.« Ariel verlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, vermutlich dreht sie sich nach ihrer Tasche um, die wie ein brauner Sack neben dem Fenster liegt. »Sie lag gestern Nacht hier auf dem Fußboden. Ich muss wohl vergessen haben, sie mitzunehmen.«
»Das sind ja gute Neuigkeiten«, seufzt ihre Mutter erleichtert. »Jetzt muss ich wenigstens nicht während der Mittagspause die Telefongesellschaft anrufen. Ein Punkt weniger auf meiner Liste.«
»Ja«, antwortet Ariel und hustet.
»Wie geht es dir? Du bist so blass. Bist wohl noch müde nach der langen Nacht?«
»Ja, ein bisschen schon. Müde und … irgendwie fühle ich mich nicht gut, Mom, mir ist schrecklich übel.«
Ich liege unter dem Bett und lächle in mich hinein. Je länger ich mit diesem Mädchen zusammen bin, desto besser gefällt es mir. Es steckt voller Überraschungen. Auch wenn manche vielleicht nicht angenehm sein mögen, ziehe ich Überraschungen dem Vorhersagbaren jederzeit vor.
»Du hast bestimmt nur einen Kater«, meint ihre Mutter.
»Nein, das glaube ich nicht. Es fühlt sich eher an, als würde ich eine Grippe bekommen.«
»Genauso fühlt sich ein Kater an, Ariel. Deshalb wäre es besser gewesen, du hättest dich auf ein Glas Wein beschränkt und keine vier getrunken.« Ihre Mutter klingt weder belustigt noch besonders mitfühlend. »Es gibt in Zukunft keine Verabredungen mehr an Wochentagen, wenn du am nächsten Tag krank bist.«
»Ich weiß, Mom. Es tut mir leid.« Ariel spricht so leise und reumütig, dass ich fest überzeugt bin, sie hat unser kleines Abenteuer bereits abgeschrieben. Doch dann hustet sie erneut, räuspert sich, schnieft und zieht die Nase hoch. Es klingt überzeugend kränklich. »Aber ich … Ich fühle mich wirklich nicht besonders. Kann ich nicht doch zu Hause bleiben? Nur das eine Mal?«
Ihre Mutter seufzt geschlagen. Ich liege in meinem Versteck und grinse siegesgewiss. »Na gut. Aber nur, weil du dieses Jahr noch keinen Tag gefehlt hast.«
»Danke.«
»Aber wenn das noch mal vorkommt, dann gibt es wochentags keine Verabredungen mehr, und wir müssten uns darüber unterhalten, um welche Uhrzeit du zukünftig wieder zu Hause bist, hast du verstanden?«
»Ja, Mom. Danke. Du bist die Beste!«
»Schon gut, schon gut«, wehrt ihre Mutter ab und lacht
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