Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
verbunden hatte, lehnte sich Kazuteru zurück. Munisai spannte probehalber die Schulter an, verzog ein wenig die Mundwinkel, grunzte aber anerkennend. Dann ließ er sich den Wasserkrug geben, trank ihn langsam aus und blickte dabei in die Kohlenglut. Kazuteru wartete schweigend. Schließlich wagte er, etwas zu sagen.
«Warum ausgerechnet ich, Herr?»
«Du warst der Erste, den ich allein fand», erwiderte Munisai, «und ich bin dir dankbar.» Dann sah er Kazuteru zum ersten Mal direkt an. «Wie alt bist du?»
«Siebzehn, Herr. Im Herbst werde ich achtzehn.»
«Das ist alt genug.» Munisai blickte wieder in die Glut. «Was glaubst du: Wie alt war der junge Fürst Kanno heute?»
«Neun, Herr.»
«Neun Jahre alt. Auch das ist alt genug. Weißt du, was er in seinem Todesgedicht geschrieben hat?»
«Nein, Herr.»
«
Sayonara
. Einfach nur
Sayonara
, lebt wohl in der Handschrift eines Kindes. Makellos ausgeführt», sagte Munisai. In seinem Tonfall lag keinerlei Härte mehr. Es war der gleiche wehmütige Ton, in dem er vor dessen Seppuku auch zu Kanno gesprochen hatte. «Wir sollten solche Vollkommenheit in Ehren halten, denn sie ist ein flüchtiges Phänomen. Die Welt, in der wir leben, ist verderbt. Bald werden deine Fehler und Schwächen und die Schmach, die du auf dich geladen hast, bestimmen, wer du bist. Bilde dir bloß nicht ein, dass dich die Götter oder das Schicksal für etwas anderes ausersehen haben. Das dachte ich auch einmal, aber …»
Mehr sagte er nicht. Kazuteru sah mit unbehaglichem Gefühl vor sich hin. So verletzlich wirkte Munisai, dass Kazuteru nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Vielleicht wurde es nun auch dem Heerführer bewusst, denn er beugte sich langsam vor und legte sich die unversehrte Hand in den Nacken. Seine Fingerknöchel färbten sich weiß, während er leicht vor- und zurückschaukelte. Er atmete tief durch und hob dann wieder das Haupt. Alles Weiche war von ihm gewichen: Sein Gesicht blickte entschlossen, die Lippen gespannt, die Augen steinern.
«Ich glaube, es wird Zeit, dass ich meinen Sohn besuche», sagte er. Dann erhob er sich, zog die Kimonos wieder zurecht und hob seinen Brustharnisch auf. Ohne Kazuteru noch einmal anzusehen, ging er fort in die Nacht.
«Soll ich Fürst Shinmen Bescheid sagen, Herr?», rief ihm der junge Samurai hinterher, der sich ebenfalls erhoben hatte, aber nicht wagte, ihm zu folgen. «Was soll ich ihm sagen? Soll ich …»
Der Ruf erstarb auf seinen Lippen. Er war allein. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, ließ sich Kazuteru neben dem Kohlenbecken nieder und übernahm unaufgefordert die Wache. Hinter sich hörte er die Siegesfeier. Von vorn, aus dem umkämpften Tal, drang nur das Wimmern der Zurückgelassenen, die immer noch im Sterben lagen. Sie waren eine grausige Gesellschaft, aber Dienst war nun einmal Dienst.
Kapitel 2
A materasu», sagte der Mönch Dorinbo und wies auf die Morgensonne hinter sich. «Sie, die den Himmel erleuchtet. Quell alles Guten auf der Welt. Empfangt ihren Segen.»
Die Pilger sahen zur Sonne, so gut sie konnten, ließen ihren Schein durch die Fingerritzen vorgehaltener Hände in zusammengekniffene Augen dringen. Eine ganze Schar von ihnen wartete schon seit lange vor Morgengrauen auf dieser Felsenklippe, von der man ostwärts auf den Ozean sah. Die Männer und Frauen standen, die Kinder hockten im Schneidersitz zwischen ihren Füßen.
Kurz vor Sonnenaufgang war der Mönch aufgetaucht und hatte sie zunächst nicht beachtet. Er stand da, die Hände lobpreisend erhoben, und sah zu, wie die Sonne emporstieg, bis sie sich vollends vom Horizont löste. Die weiten Ärmel seines Gewands verliehen ihm die Silhouette eines Mantarochens, der aus den Wogen sprang, um der Sonne nachzujagen.
Dann wandte er sich plötzlich um und sprach zu ihnen, erzählte die lange Geschichte der Entstehung der Welt, von den unendlichen Weiten des uranfänglichen Chaos, das nur aus Wasser bestand, und davon, wie die erste japanische Insel als Tropfen von der Spitze einer himmlischen Juwelenlanze herabgefallen war. Ein ungeübter Sprecher wäre heiser geworden, Dorinbos Stimme aber ließ ihn nicht im Stich, während er den Anwesenden von den ersten Göttern und ihren Qualen berichtete, von dem Aufruhr, der unter ihnen herrschte und alles Leben bedrohte, bis schließlich die goldene Amaterasu erstand. Als Träne rann sie aus dem Auge ihres Vaters, eine Tochter, so rein, dass in den Herzen aller Wesen Liebe und Frieden
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