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Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Titel: Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kirk
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einkehrte.
    Währenddessen stieg die Sonne hinter Dorinbo immer höher empor und badete die Pilger in ihrem Licht. Als er mit seiner Geschichte schließlich beim Aufstieg der Göttin in himmlische Sphären angelangt war, wo sie seitdem herrschte, ballte Dorinbo eine Hand zur Faust, umfasste sie mit der anderen und reckte ihr die Hände so zum Gruß entgegen. Die Pilger ahmten die Geste nach, einige fielen vor Inbrunst sogar auf die Knie und drückten die Stirn auf den Boden.
    «Doch damit ist die Geschichte von Amaterasu nicht zu Ende, und das ist auch nicht der Grund, weshalb einige von euch durchs ganze Land gereist sind, um in dieses kleine Dorf zu gelangen», sagte Dorinbo, als sie den Blick wieder auf ihn richteten. «Denn als sie diese Welt verließ, brach die Zeit der Menschen an. Sie sah uns vom Himmel aus dabei zu, wie wir gediehen, und allmählich liebte sie uns von allem, was sie hienieden zurückgelassen hatte, am meisten. Und weil sie sah, dass wir manchmal schwach und ängstlich waren, machte sie uns noch ein letztes Geschenk: ihren Enkelsohn Ninigi. Er stieg vom Himmel herab und pflanzte die ersten Reisfelder, auf dass wir zu essen hätten. Er war es auch, der uns zu kämpfen lehrte und uns so stark machte, dass wir nichts Böses mehr fürchten mussten. Ninigi war zu bescheiden, um je für sich selbst einen Thron zu beanspruchen, doch sein Urenkel wurde der erste Kaiser, und bis zum heutigen Tag hat sein Geschlecht all die Jahrhunderte hindurch ununterbrochen als Kaiserfamilie geherrscht. All das jedoch …», sagte Dorinbo und hob mahnend den Zeigefinger, um einer neuen Woge der Verzückung zuvorzukommen, «… all das begann hier. Es war genau hier, im Dorf Miyamoto, dass Amaterasu ihren Enkel Ninigi auf die Erde hinabgeleitete. Hier tat das Götterkind seine ersten Schritte, und hier auch beehrten die Schritte derer, die den Himmel erleuchten, das letzte Mal den Boden der Sterblichen.»
    Der Mönch wies auf das Land ringsum. «Dies ist die Brücke zwischen dem Zeitalter der Götter und dem Zeitalter der Menschen. Kein anderer Ort auf Erden kann das von sich behaupten. Dieser kleine Tempel ist etwas ganz Besonderes, und auch wir sind es, denn wir stehen in dem Licht, das von ihm zurückgeworfen wird. Zwar fließt Amaterasus Blut nicht in uns, trotzdem sind wir alle ihre Kinder und stehen hier in ihrer Gnade. Lasset uns beten.»
    Und das taten sie, widmeten der Sonne stumme Gebete und stellten sich dabei ein Antlitz vor, dessen Schönheit über ihren Verstand ging.
    Aus dem dunklen Alkoven in Dorinbos armseliger Hütte sah der junge Bennosuke zu den Umrissen der Pilger auf der Felsenklippe hinauf, während der Himmel über ihnen den Pfirsichton der Morgendämmerung ablegte und das Blau des Tages annahm. Keiner hatte Bennosukes Kommen bemerkt, und das war ihm nur recht so: Sein hässlicher Hautausschlag löste stets Ekel aus, zumal bei jenen, die sich besonders rein und heilig wähnten.
    Gerade erst hatte der Junge die Rüstung seines Vaters geputzt, und diese Konfrontation mit seiner Schmach genügte ihm für einen Tag.
    Daher hielt er sich versteckt und wartete geduldig. Irgendwann löste sich die Pilgerschar auf. Einige gingen zum Tempel, um vor dem Schrein weiterzubeten, andere zum Ozean, um sich die Brandung anzusehen, und manche traten gleich wieder die lange Heimreise an.
    Dorinbo kam mit ihnen herab, sprach nun, im hellen Tageslicht, lächelnd als Gleicher unter Gleichen mit ihnen. Die Askese hatte dem Mönch eine schlanke Gestalt verliehen, und sein runder, kahlgeschorener Kopf schien zu groß für die schmalen Schultern, aber er war noch jung, und seine Augen blickten warmherzig und vertrauenswürdig. Er wusste, wo Bennosuke ihn erwartete, und ging langsam durch die sich zerstreuende Pilgerschar zu ihm.
    «Neffe», sagte er und nickte dem Jungen zu.
    «Onkel», erwiderte Bennosuke. Er lächelte, kam aber nicht aus seinem Versteck.
    Der Mönch sagte nichts dazu, und gemeinsam standen sie da und sahen den Pilgern nach.
    «Viel los heute», bemerkte der Junge. «Mehr als vor zwei Wochen.»
    «Der Hochsommer naht. Die Straßen sind gut, und die Sonnenwende steht bevor.»
    «Aber die Predigt bleibt die gleiche.»
    «Das konntest du von hier hören?»
    «Das muss ich nicht hören, Onkel. Das sehe ich schon an deinen Gesten», sagte Bennosuke, senkte die Stimme und hob die Hände, um zu einer pathetischen Parodie anzusetzen: «‹Und auch wir sind etwas Besonderes, denn wir stehen in dem Licht, das

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