Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
er befördert werden, und man würde seinen Sold erhöhen, und dann könnte er endlich für seine Mutter sorgen und ihr einen behaglichen Lebensabend ermöglichen. Feine Seide, gutes Essen, eine Dienstmagd oder vielleicht auch zwei … Warum nicht? Es war eine Nacht zum Träumen, eine Nacht des Ruhms.
Dabei gingen ihm auch schreckliche Erinnerungen an diesen Tag durch den Sinn: die Geräusche des Manns mit dem verdrehten Bein, der Anblick, wie Kannos Kavallerie in einer furchteinflößenden Pfeilformation den Hang herabgeprescht kam, die warme Pisse, die ihm am Bein hinabgelaufen war, als er starr vor Entsetzen vor jenen Reitern gestanden hatte. Doch der junge Samurai setzte ein Lächeln auf, dachte nicht mehr daran, sang stattdessen lauter und drehte sich beim Gehen.
Sie alle hatten sich diese Nacht verdient, in der sie die Regeln und Anstandsformen, die sonst ihr Leben bestimmten, einmal beiseitelassen konnten. Männer klatschten ihm zu, während er singend vorüberzog, auch ältere, die ihn bei jeder anderen Gelegenheit angeschnauzt hätten, er solle den Blödsinn lassen. Er kam an Männern in edlen Kimonos vorbei, die sich weit vorgebeugt erbrachen, die Münder zu einem Grinsen erstarrt. Andere hatten sich fast nackt ausgezogen und übergossen sich, obwohl sie längst sauber waren, aus Eimern mit warmem Wasser – nur weil es ein schönes Gefühl war und sie es immer noch konnten.
Die Zeit verging, und das Lied hatte viele Strophen, auch wenn Kazuteru kaum mehr als die ersten drei kannte. Um sein Gedächtnis aufzufrischen, hielt er inne und trank widerwillig einen Schluck Sake, den er sich größtenteils übers Kinn laufen ließ. Als er den Mund wieder öffnete, um weiterzusingen, stieß ihn jemand mit der Hand vor die Brust, so fest, dass er einen Schritt nach hinten taumelte.
Es war Munisai, immer noch in seiner Rüstung, das Gesicht in Wut erstarrt. Er blickte Kazuteru aus freudlosen Augen an.
«Du», sagte er. «Komm mit.»
Dann wies er mit dem Kinn in die Dunkelheit abseits der brennenden Burg und ging voraus. Kazuteru zögerte einen Moment, bestürzt über das plötzliche Auftauchen des Heerführers und darüber, dass er ausgerechnet ihn aus der Menge herausgepickt hatte. Was hatte er Schlimmes getan?
«Lass mich nicht warten, Junge!», rief ihm Munisai zu, ohne stehen zu bleiben oder sich auch nur umzusehen.
Niemand rings um Kazuteru hatte es bemerkt, niemand sprang ihm bei. Schlagartig fühlte er sich inmitten der Männer, die er für seine Kameraden gehalten hatte, allein. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen, das war ihm klar, und so folgte er Munisai ängstlichen Schritts und in respektvollem Abstand.
Und während sie so gingen, fiel es ihm wieder ein: der Dolch! Fürst Shinmen hatte vermutlich nichts gesagt, weil er die Zeremonie nicht noch mehr verderben wollte, als Kazuteru es bereits getan hatte. Aber vergessen hatte er es nicht. Munisai musste gekommen sein, um ihn auf irgendeine Weise zu bestrafen. Er trug noch beide Schwerter. Bang beäugte Kazuteru sie. Aber einen so kleinen Fehler würde er ja nicht mit dem Leben bezahlen müssen, oder?
Doch war der Fehler so klein? Kanno war immerhin ein Fürst gewesen, Ueno ein General … Er wusste es nicht, und Munisais Gebaren war kein Hinweis zu entnehmen. Er beachtete Kazuteru gar nicht, führte ihn nur an den Rand des Feldlagers, zu einem glühenden Kohlenbecken. Zwei Wachen standen daneben, die auf Munisai zutraten, sich aber, als sie ihn erkannten, tief vor ihm verneigten.
«Nichts zu vermelden, Herr. Alles ruhig», sagte der eine, die Augen niedergeschlagen.
«Gut. Ihr dürft gehen. Ich übernehme den Posten», erwiderte Munisai. Die beiden sahen zu Kazuteru hinüber, dachten sich ihren Teil, verneigten sich erneut und verschwanden.
Als sie allein waren, wandte sich Munisai dem jungen Mann zu und musterte ihn von oben bis unten. Er spannte die Schultern an, drehte den Kopf hin und her und nickte.
«Bringen wir’s hinter uns», sagte er.
Anscheinend wappnete sich der Heerführer für irgendetwas. Kazuteru blickte zu Boden und versuchte mit einer Stimme, die schwach und zerbrechlich klang, zu retten, was noch zu retten war.
«Ich entschuldige mich von ganzem Herzen, Herr, und bitte Euch um Verzeihung.» Sein Magen revoltierte. «Ja, ich habe den Dolch fallen lassen, aber anschließend habe ich ihn gereinigt, so gut ich konnte, und ich dachte, es wäre ausreichend für … aber offensichtlich … Bitte vergebt mir. Ich
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