Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
von ihm zurückgeworfen wird!› Ich weiß noch, wie du es damals schon gesagt hast, als ich dir zum ersten Mal zugehört habe. Ich saß zu deinen Füßen, und du hast wortwörtlich genau das gesagt. Änderst du deinen Text denn nie?»
«Ich fürchte», erwiderte der Mönch, «das könnte als Sakrileg empfunden werden.»
«Nicht die Geschichte, Onkel. Du weiß doch, was ich meine: die Worte.»
«Sollte ich sie denn ändern?», fragte Dorinbo. «Es ist jetzt acht oder neun Jahre her, dass du sie das erste Mal gehört hast, nicht wahr?»
«Ja, so muss es sein, denn ich weiß noch, dass meine Mutter dabei war.»
«Und dennoch erinnerst du dich daran, trotz all der Jahre, die seitdem vergangen sind. Den Kindern, die heute hier waren, wird es genauso gehen.»
«Aber wird es dir nicht irgendwann langweilig, immer die gleichen Sachen zu sagen?»
«Bedenke, dass manche Menschen das für einen Weg halten, auf dem Dinge Heiligkeit erlangen, Bennosuke», meinte der Mönch. «Ich spreche an dieser Stelle diese Worte, so wie Dutzende Männer es vor mir getan haben und Dutzende Männer es nach mir tun werden, wenn ich einmal tot bin. Dieser Akt eint uns, eint auch unsere Seelen, die allein der Schatten der Zeit trennt. Ich bin ein Gefäß für die Vergangenheit wie für die Zukunft; mein Äußeres mag sich ändern, mein Inneres aber bleibt bestehen. Das ist ein Weg zur Unendlichkeit.»
Er schwieg einen Moment, damit der Junge Zeit hatte, darüber nachzudenken. Dann fügte er hinzu: «Außerdem haben ein bisschen Theater und Poesie zweimal im Monat noch keinem geschadet. Also: Übe Nachsicht mit mir.»
Mönche waren Bewahrer von Worten – nicht nur von religiösen Schriften, sondern auch von alten Erzählungen und Gedichten, von Abhandlungen zu Themen der Philosophie, Wissenschaft und Medizin. Auch Dorinbo folgte dieser Tradition und kümmerte sich ebenso eifrig um die Bibliothek wie um den ganzen Tempel. Doch während die meisten Tempel Werke großer Geister bargen, verwahrte der Tempel von Miyamoto die Worte all der Pilger, die ihn im Laufe der Zeit aufgesucht hatten.
Für ihre Andacht ermunterte man sie – seien es Bauern, Händler, Samurai oder Fürsten –, ihre Wünsche und Gebete einem Stück Papier oder Seide anzuvertrauen. Es machte nichts, wenn sie nicht schreiben konnten: Solange sie es nur im Geiste flüsterten, würde Amaterasu es verstehen, daher waren die Krakeleien der Analphabeten so willkommen wie die schönste Kalligraphie. Das alles fiel in einen Schlitz vor dem geschnitzten Abbild der Göttin und landete ungelesen in schweren Schatullen in einem dunklen, aus dem Fels gehauenen Kellerraum.
Dort wurde es zwanzig Jahre lang aufbewahrt, vor Feuchtigkeit und den Augen der Welt geschützt, bis man damit ein großes Feuer speiste. Dazu wurden die Schatullen geleert und die Gebetszettel in Zweige geflochten. Diese häufte man in einer heiligen nächtlichen Zeremonie rings um den Tempel auf und zündete sie an. Hoch loderte das Feuer empor und verzehrte den Tempel und die Gebete, die Asche aber wurde ins Reich der Amaterasu hinaufgetragen, die bald darauf wieder strahlend hell in den Himmel stieg. Dann wussten die Menschen, dass die Göttin von ihren Sorgen erfahren hatte und sie immer noch liebte.
So war es schon seit vorgeschichtlichen Zeiten. Alles war letztlich vergänglich, zumal das irdische Fleisch und die banalen Sorgen der Welt der Sterblichen. Das zu bestreiten war sinnlos, es anzuerkennen ein Schritt hin zu heiterem Gleichmut.
Zwanzig Winter und zwanzig Frühjahre waren vergangen, seit dieser Schritt zuletzt getan worden war, daher bereiteten sich Dorinbo und Bennosuke jetzt, im neunzehnten Sommer, auf eine Nacht der heiligen Brandstiftung vor.
Als von den Pilgern nur noch wenige besonders eifrige übrig waren, kam Bennosuke hervor und machte sich mit dem Mönch an die Arbeit, die sie nach dem Ende des Frühjahrsnieselregens begonnen hatten. Zwanzig Jahre Gebete waren allerhand, und auch nur einen Zweig richtig zu flechten kostete Zeit. Es war genau vorgeschrieben, wie Papier und Seide mit den Zweigen verbunden werden mussten, während gleichzeitig Weihrauchstäbchen verbrannt, heilige Worte gesprochen und Bronzeglöckchen geläutet wurden.
Der Mönch und sein Neffe nahmen Gebete aus den nimmer enden wollenden Schatullen und Zweige aus dem Vorrat, den fromme Holzfäller aus dem Ort täglich wieder auffüllten, setzten sich damit vor den Tempel und flochten, bis Amaterasu im Zenit stand und
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