Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
… Wisst Ihr, wie er gestorben ist?»
«Warum erzählt Ihr mir das alles?», fragte Munisai unbehaglich. Selbstverständlich kannte er die Geschichte, hatte sie aber, wie den Großteil seines Vorlebens, zu vergessen versucht. Dennoch sagte er nichts, als Shinmen weitererzählte.
«Es war ein Schlachtfeld wie jedes andere. Das war nicht meine allererste Schlacht, aber eine der ersten, denn ich weiß noch, dass mein Gesicht von Pickeln überzogen war. Ich war aufgeregt. Ich hatte ein neues Pferd, ein richtiges Schlachtross, und ich wollte ausprobieren, wie schnell es laufen konnte. Dann begann die Schlacht, und mir wurde schlecht. Ich hatte große Angst. Überall Tote, schreiende Männer, der Gestank von Blut und Angst, Ihr wisst schon … Es ist komisch, dass man sich daran gewöhnt, nicht wahr? Dass man das gar nicht mehr mit normalen Maßstäben misst.
Euer Vater sah jedenfalls, dass ich grün im Gesicht wurde. Er ritt herbei, verpasste mir eine Ohrfeige und befahl mir, mich zusammenzureißen. Er schrie mich an, ein Fürst habe in der Öffentlichkeit Haltung zu wahren, und ich solle mir die Rüstung fester schnallen und nicht so an den Zügeln zerren … Das waren alles gute Ratschläge, aber sie gingen mir zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, und dann kamen die Pfeile.
Pfeile werden auf dem Schlachtfeld in hohem Bogen abgeschossen und prasseln wie aus einer Wolke herab. Manche behaupten, man könne sie hören, während sie angeflogen kommen, aber das stimmt nicht. Man nimmt eine Bewegung am Himmel wahr und denkt instinktiv, es sei ein Vogelschwarm, weiter nichts. Dann wird der Schwarm immer größer, und plötzlich wird einem klar, dass er direkt auf einen zufliegt. Und schon hageln die Pfeile auf einen herab – und schlagen ein.
Euer Vater stürzte sich über mich, stieß mich aus dem Sattel und beschirmte mich mit seinem Leib, bis der letzte Pfeil niedergegangen war. Er gab keinen Laut von sich, aber als er mich wieder losließ, sah ich sie in seinem Körper stecken. Da wurde mir überhaupt erst klar, wie groß Kriegspfeile tatsächlich sind, so lang wie ein Arm, und mit einer großen, schweren Spitze, die auch eine Rüstung durchschlägt; sie sehen viel kleiner aus, solange sie noch auf der Bogensehne ruhen. Euer Vater hatte zwei Pfeile in den Rücken abbekommen, sie hatten seine Panzerung durchschlagen, und der Pfeil, der ihn wahrscheinlich das Leben kostete, war knapp neben dem Brustpanzer in ihn eingedrungen. In die Lunge, vielleicht auch tiefer. Der Schaft war kaum mehr zu sehen, so tief steckte er. Euer Vater gab keinen Laut von sich, musterte mich nur von Kopf bis Fuß, während wir uns wieder erhoben. Und als er gesehen hatte, dass ich unverletzt war, stieg er wieder aufs Pferd und befahl den Angriff auf die Bogenschützen, die uns eben beschossen hatten.
Wir gewannen die Schlacht, und Stunden später saß er immer noch im Sattel. Er hatte sich das Schwert in der Hand festgebunden, damit es nicht herausfallen konnte. Er war ganz grau im Gesicht, aber seine Augen blickten immer noch grimmig. Und auch die Pfeile ragten immer noch aus ihm hervor. Niemand wagte, ihn anzurühren, denn es war alles so
vollkommen
. Ohne einen Laut von sich zu geben … loyal … auf dem Schlachtfeld. Der perfekte Tod für einen Samurai. Männer knieten vor ihm nieder. Männer knien immer noch nieder, um seiner zu gedenken. Shogen Hirata …
Ja, er war ein wahrer Samurai. Und wenn man bedenkt, dass Euretwegen der Name Hirata heute nur noch für Mord, Gräueltaten und Brandstiftung steht … Ich frage mich, was Euer Vater wohl dazu sagen würde, ob sein Geist wohl, wo immer er auch weilt, vor Schmach stöhnt», schloss Shinmen, sein Tonfall mit einem Mal kühl. Er sah zu Munisai hinüber, gespannt auf seine Reaktion.
Der Blick drang Munisai bis auf den Grund der Seele, und ihm war klar, dass der Fürst ihn vollkommen durchschaut hatte. Das hatte bis dahin nur ein einziger Mann vermocht: Dorinbo. Ihm fiel keine Erwiderung ein, denn sein Hirn war vor Schock und Scham wie benommen. Finster blickte er drein, zu mehr war er nicht in der Lage, und langsam breitete sich auf Shinmens Gesicht ein Lächeln aus.
«Er war ein Samurai, und obwohl Ihr behauptet, keiner zu sein, und brüllt: ‹Ich bin keines Mannes Vasall!›, glaube ich, dass auch Ihr einer seid, Munisai. Warum sonst nehmt Ihr an dem Turnier teil? Warum seid Ihr nicht einfach verschwunden? Warum seid Ihr nicht aufs Meer hinausgeschwommen und nicht mehr
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