Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Betrunkenheit vollkommen falsch eingeschätzt und war alles andere als sicher auf den Beinen –, da übertönte Fürst Shinmens Stimme die der anderen.
«Halt!», schrie er. «Ihr alle: Haltet ein!»
Die Samurai gehorchten, wenn auch widerwillig. Munisai stand ihnen mit wachsamer Miene gegenüber. Er sah, wie gewaltig er unterlegen war, und suchte fieberhaft nach irgendeiner Lösung oder Fluchtmöglichkeit.
«Fürst Shinmen, warum befehlt Ihr uns einzuhalten? Lasst uns dieser Farce ein Ende bereiten», sagte der alte Samurai. «Die anderen Fürsten werden es uns danken. Wir ersparen allen die Peinlichkeit, dass dieser Wilde auch nur die Chance bekommt, bei dem Turnier zu siegen.»
«Wir könnten diesen Wilden aber auch befördern», erwiderte Shinmen ganz ruhig.
«Wie meint Ihr das?», fragte Munisai, dem Fürsten den Rücken zugewandt. Sein Blick huschte zwischen den Samurai hin und her; er musste einschätzen, wer als Erster zuschlagen würde, aus wessen Augen die stärkste Blutgier sprach.
«Würdet Ihr mich begleiten, Hirata? Ich verspreche Euch: keine Tricks, keine giftbenetzten Klingen», sagte Shinmen.
«Hoheit!», zischte der alte Offizier. «Ich bin Eurem Willen bis hierher gefolgt, aber seht Ihr denn nicht, wie töricht das wäre? Wie wollt Ihr mit dieser Kreatur denn vernünftig reden?»
«Ihr haltet den Mund und bleibt hier», erwiderte Shinmen mit abweisender Geste.
Munisai riskierte einen schnellen Blick hinter sich. Shinmen nickte ihm zu und wies auf eine papierbespannte Tür hinten im Saal. Es war eine ungewöhnliche, mutige Entscheidung, dass ein Fürst jemanden – von einem potenziellen Feind ganz zu schweigen – einlud, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Die Neugier erwachte in Munisai, und langsam löste er sich aus seiner Kampfpose.
Die versammelten Samurai sahen aufmerksam zu, wie er langsam rückwärts aus dem Saal ging, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, ihn hinterrücks niederzuschlagen. Shinmen schob die Tür hinter ihnen beiden zu, und die Wachen waren verschwunden. Dann wies der Fürst auf eine noch kleinere Tür, die aus dem Gebäude herausführte, gemeinsam gingen sie hindurch.
Sie schritten aus dem orangefarbenen Schein der Laternen hinaus in die blaue Nacht und betraten eine Festungsmauer mit Blick über die Lichter der Stadt. Das ferne Gemurmel Abertausender Stimmen wurde vom Wind zu ihnen herübergetragen. Shinmen stützte die Ellenbogen auf die Brüstung und sog alles in sich auf. Munisai trat vorsichtig neben ihn. Die kühle Luft erfrischte ihn und ließ sein Hirn um mehr als nur niederträchtige und feindselige Gedanken kreisen. Schweigend wartete er ab, was Shinmen zu sagen hatte.
«Entschuldigt bitte meinen Heerführer», sagte der Fürst nach kurzem Schweigen. «Er ist ein eifriger Mann, aber es gibt Eifer, und es gibt Übereifer. Wie dem auch sei: Er vertraut mir nicht. Hält mich für ‹unberechenbar›. Und deshalb wird er bald verschwunden sein. Das ist bereits in die Wege geleitet. Wir in diesem Clan müssen zusammenstehen.» Sein Blick war weiterhin auf das nächtliche Panorama gerichtet.
«Ich werde jedenfalls bald einen Nachfolger für ihn bestimmen müssen», fuhr er fort, wandte sich zu Munisai um und unterbreitete ihm mit seinem Blick ein wortloses Angebot. Munisai wich dem Blick aus, bestürzt und verwirrt.
«Ich bin kein Offizier», sagte er.
«Euer Vater war einer», entgegnete Shinmen und richtete den Blick wieder auf Osaka. Seine Stimme nahm einen warmen, wehmütigen Ton an. «Shogen Hirata.
Das
war ein Samurai. Wusstet Ihr, dass er der einzige Mann war, dem mein Vater gestattete, mich anzurühren, als ich aufwuchs? Einmal hat er mir zwei Milchzähne ausgeschlagen, als er mir mit einem Speergriff ins Gesicht schlug, weil ich mich auf die Koppeln geschlichen und die Pferde unruhig gemacht hatte. Ich hatte Angst vor diesem Mann, bald aber auch Respekt. Ich sah, wie er meinen Vater beschützte, und wie er alle möglichen Dinge regelte und … Bei ihm wusste ich einfach, dass alles sicher und im Griff war. Versteht Ihr, was ich meine? Das ist schwer zu erklären.
Ich war am Tag seines Todes dabei. Ich war nicht traurig, aber auch nicht froh … Ich weiß nicht, ob Melancholie das richtige Wort dafür wäre. Ich … Es war ein guter Tod. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich eines Tages auch gern so sterben – nicht krank in meinem Bett darauf wartend, dass meine Seele entschwindet, so wie es bei meinem Vater war. Nein, Euer Vater
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