Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Markise seiner Sänfte hervor an ihn gewandt, während die Dutzenden Träger zusahen.
«Bist du ein Samurai?», fragte er, sein Gesicht ein Bild der Schadenfreude. «Bist du ein Samurai, Mönch?»
Und bei diesen einfachen Worten verstand Bennosuke mit einem Mal alles, so wie Munisai es ihm vorhergesagt hatte. Schweigend sah er zu, wie die letzten Samurai verschwanden, und stieg dann langsam zum Tempel hinauf, wohin man auch den Leichnam seines Vaters gebracht hatte.
Er ruhte nun in dem kleinen Schrein. Dorinbo hatte Kopf und Körper gesäubert und in ein Leichentuch gehüllt. Bennosuke erkannte die vagen Umrisse über den dort aufgeschichteten Zweigen. Ein Scheiterhaufen für einen Verdammten, gespeist aus Gebeten, Hoffnungen und Träumen.
Bennosuke sah den Händen seines Onkels bei der Arbeit zu. Der Zweig war fast schon fertig, der Mönch flocht gerade das vorletzte Gebet hinein. Es war Munisais Todesgebet. Er sah noch einmal das letzte Schriftzeichen, dann verschwand es in der Menge der anderen Zettel. Nun blieb nur noch ein einziges Gebet, ein zusammengefalteter Zettel, der noch sehr neu aussah. Dorinbo hielt ihn Bennosuke hin.
«Erinnerst du dich noch daran?», fragte er.
«Nein.»
«Den hast du mir an dem Morgen gegeben, als du nach Aramaki aufgebrochen bist.»
«Oh.» Das schien schon so lange her zu sein. Dorinbo faltete den Zettel auseinander. «Ich dachte, wir dürfen die Gebete nicht lesen.»
«Ich glaube, dieses hier entspricht nicht mehr der Wahrheit», erwiderte der Mönch und las vor: «
‹Ich, Bennosuke Shinmen, strebe an, in den Diensten Fürst Shinmens ein so guter Samurai zu werden, wie es mir nur möglich ist …›
Na, habe ich recht?»
«Ja», gab Bennosuke zurück, wusste aber, dass sein Onkel irrte: Dorinbo glaubte, Bennosuke werde nun kein Samurai mehr. Doch das war nicht der Teil des Gebets, der nicht mehr stimmte.
«Dann muss Amaterasu nicht davon erfahren», sagte Dorinbo, faltete den Zettel wieder zusammen und hielt ihn Bennosuke hin. Der Junge steckte ihn ein. «Tja, wenn das so ist – dann sind wir jetzt fertig», fuhr Dorinbo fort. «Zwanzig Jahre stecken darin. Möchtest du den letzten Zweig hinzufügen?»
«Sollten nicht auch noch andere hier sein? Pilger?», fragte der Junge.
«Ich werde das Feuer eine Woche lang schüren. Sie werden kommen und beten.»
Erst da bemerkte Bennosuke in der Dunkelheit die Umrisse großer Holzhaufen. Viel war hier geleistet worden, doch er hatte es in all den Monaten, die er mit Munisai verbracht hatte, nicht bemerkt und sich nicht darum gekümmert.
«Es wäre mir eine Ehre», sagte Bennosuke.
«Zu Munisais Füßen ist noch Platz.»
Bennosuke erhob sich, nahm den Zweig und ging zum Tempel. Der kleine Schrein war jetzt von geflochtenen Zweigen umgeben, sie alle knochentrocken und der Flammen harrend. Auch das Innere des Schreins war rings um Munisais Leichnam mit Zweigen ausstaffiert. Bennosuke kniete nieder, hob die Füße seines Vaters ein wenig an und schob den letzten Zweig darunter. Dann zog er das Leichentuch beiseite und betrachtete den Toten.
Der Enthauptungsschlag war kundig ausgeführt worden, hatte den Kopf sauber vom Körper getrennt. Dorinbo hatte den Kopf so platziert, als wäre der Tote unversehrt, und der gesäuberte Schnitt wirkte nun wie eine dunkelblaue Verfärbung rings um den Hals. Ein frischer Kimono verbarg die entsetzliche Bauchwunde. Munisai schien lediglich zu schlafen. Von den Qualen und der Erniedrigung, die er erlitten hatte, war nichts mehr zu sehen.
Bennosuke verneigte sich ehrfürchtig, verharrte einen Moment lang in dieser Stellung, richtete sich dann auf und betrachtete den ganzen Leichnam. Es erschien ihm respektlos, aber es musste sein. Das Kurzschwert entdeckte er sofort, denn es ruhte neben Munisais rechter Hand. Doch was er wirklich brauchte, sah er nicht.
«Es ist hier, Bennosuke», sagte Dorinbo.
Bennosuke wandte sich um und sah seinen Onkel an. Der Mönch hielt ihm Munisais Langschwert mit beiden Händen entgegen. Bennosuke trat langsam wieder aus dem Tempel und nahm das Schwert aus Dorinbos Händen. Verblüfft sah er seinen Onkel an.
«Wir wissen doch beide, dass du nicht zum Mönch bestimmt bist. Du bist Munisais Sohn, nicht meiner.»
«Ich wäre ja hiergeblieben, aber …», erwiderte Bennosuke verlegen. «Aber dann würde Nakata wiederkommen und mich töten.»
«Ist es das – oder ist es nicht vielmehr so, dass
du
losziehen und ihn töten willst?», fragte Dorinbo. Bennosuke schwieg.
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