Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
darüber nachdenke: mindestens seit dem Herbst nicht mehr.»
«Nun, ich werde mich dennoch zu dem Tempel begeben», erwiderte der Mann und wirkte keineswegs entmutigt. «Ich danke dir für die Auskunft.»
Er verneigte sich, und dann gingen die beiden fort. Der Bauer sah ihnen noch kurz nach und machte sich dann achselzuckend wieder an die Arbeit. Die Straßen brachten oft merkwürdige Menschen hier vorbei, und dass die beiden nicht zum Tempel, sondern in die entgegengesetzte Richtung aufbrachen, ging ihn ja schließlich nichts an.
Eine Stunde später hockten die beiden Männer in einem kahlen Wäldchen an einem mickrigen Lagerfeuer. Sie wussten nur zu gut, wie das Dorf hieß und wo sich der Tempel befand, denn sie hatten ihn bereits besucht, als sie vier Tage zuvor hier eingetroffen waren, als Pilger getarnt. Doch obwohl sie ungewöhnlich lange auf dem Gelände des Tempels ausgeharrt hatten – sie seien überaus fromm, hatten sie dem Mönch versichert –, hatten sie den Jungen, der sich dort aufhalten sollte, nicht gesehen.
Das kam für sie unerwartet, und so hatten sie sich dieses Wäldchen zum Unterschlupf erkoren, während sie die Straßen und Wege von und nach Miyamoto im Blick behielten und so viele Leute befragten, wie sie nur wagten.
«Der Junge scheint wirklich nicht hier zu sein», seufzte der Mann, der zuvor auf dem Weg gewartet hatte und jetzt mit einem Stock in der Asche des Feuers herumstocherte. «Was für ein miserabler Auftrag.»
«Nimm’s dir nicht so zu Herzen, Bruder», sagte der Ältere der beiden, der mit dem Bauern gesprochen hatte. Seinen Worten zum Trotz klang er ebenso resigniert wie der andere.
«Diese ganze Sache ist doch sehr seltsam», bemerkte der Jüngere.
«Seltsame Aufträge sind oft aber sehr gut bezahlt.»
«Wieso marschieren die hier nicht einfach mit ihren Samurai ein und machen kurzen Prozess?»
«Weil man ihnen davon abgeraten hat. Ein direktes Einschreiten würde nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Und außerdem: Jetzt haben wir den Auftrag angenommen …»
«
Du
hast ihn angenommen.»
«Und die Auftraggeber sind Leute, die man besser nicht enttäuschen sollte.»
«Schön, dann haben wir das jetzt also am Hals», erwiderte der Jüngere. «Und was machen wir nun?»
«Tja, da gibt’s einige Möglichkeiten. Wir könnten hier weiter ausharren und uns den Arsch abfrieren, bis der Junge eventuell irgendwann wieder auftaucht. Oder wir könnten für den unwahrscheinlichen Fall, dass er tatsächlich das Mönchsgelübde abgelegt hat, sämtliche Tempel und Klöster der Gegend nach ihm absuchen. Oder wir könnten es aufgeben, den Auftraggebern sagen, dass wir ihn nicht finden konnten, das schöne Geld in den Wind schreiben und bei der Gelegenheit wahrscheinlich auch eine lebensbedrohliche Menge Blut verlieren.»
«Na großartig», sagte der Jüngere und warf verdrießlich den Stock beiseite. «Diese ganze Sache stinkt doch zum Himmel. Einem Gift in die Suppe mischen, das geht ja noch – aber das mit den Armen? Das ist doch einfach nur krank. Wenn sie so was wollen, sollten sie eher einen dreckigen Busakumin darauf ansetzen.»
Da hob der Ältere den Blick. Plötzlich kam ihm eine Idee.
Zwei Tage später fand man in einem Graben den Leichnam eines großgewachsenen jungen Manns. Sein Gesicht wirkte geradezu meditativ ruhig, was im Kontrast dazu stand, dass man ihm sauber beide Arme abgehackt und sie mitgenommen hatte. Das hätte einige Bestürzung auslösen können, hätte es sich bei dem Mann nicht um einen Burakumin gehandelt.
Die Burakumin waren als Sargtischler, Henker, Leichenhändler, Schlachter und Gerber tätig, waren also Leute, die tagtäglich mit Tod und Verwesung zu tun hatten, und sie bildeten die unterste Schicht der Gesellschaft. Weise Männer schätzten, dass ihr Wert bestenfalls einem Siebtel eines normalen Menschen entsprach, und wenn so jemand verstümmelt wurde, machte das also, im Großen und Ganzen gesehen, nicht allzu viel aus.
Außer seiner Mutter trauerte niemand um den armlosen Verstorbenen. Als sein Vater von seinem Schicksal erfuhr, schüttelte er nur den Kopf und bemerkte: «Na, dann ist er jetzt bestimmt in einem besseren Leben als dem hier.»
* * *
Der Winter verging, Amaterasu gewann wieder an Kraft, und schließlich kam der Frühling und damit die prachtvolle Kirschblüte. Sie erfreute kurz das Auge und welkte dann wie stets schnell dahin.
Es war einige Wochen nachdem die Bäume verblüht waren, dass Kazuteru seinen Herrn zum
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