Ronja Räubertochter
das ihr widerfahren war und das so gar nicht ihrem Wildpferdeleben glich. Da gingen die kleinen Menschen jetzt, die ihr all dies Seltsame angetan hatten, und sie blieb stehen und sah ihnen nach, bis sie zwischen den Fichten verschwanden. Dann kehrte sie zu ihrer Herde zurück. Ronja und Birk sahen sie abends manchmal, wenn sie zum Reiten kamen, und dann riefen sie ihren Namen, und Lia wieherte eine Antwort. Aber nie mehr verließ sie die Herde und kam zu ihnen. Ein Wildpferd war sie, ein Haustier würde sie niemals werden. Kacker und Wildfang aber kamen eifrig angetrabt, sobald sie Ronja und Birk sahen. Jetzt gab es nichts Schöneres für sie,als mit einem Reiter auf dem Rücken um die Wette zu galoppieren. Und Ronja und Birk hatten große Freude an ihren weiten Ritten kreuz und quer durch den Wald. Eines Abends aber wurden sie von einer Wilddrude gejagt. Die Pferde gerieten außer sich vor Entsetzen und ließen sich nicht länger zügeln. Schließlich blieb Ronja und Birk nichts anderes übrig, als abzuspringen und sie laufen zu lassen. Denn ohne Reiter hatten die Pferde nichts zu befürchten, es waren die Menschen, die die Wilddruden haßten und verfolgten, nicht die Tiere des Waldes.
Für Ronja und Birk wurde es jetzt gefährlich. Erschrocken stoben sie in verschiedene Richtungen davon. Beide gleichzeitig konnte die Drude nicht fangen, aber sie wußten, daß sie es in ihrer Dummheit versuchen würde, und das wurde ihre Rettung. Während die Drude Birk jagte, gelang es Ronja, sich zu verstecken. Für Birk stand es jetzt schlimm. Doch als die Drude rasend vor Zorn nach Ronja ausspähte und für einen kurzen Augenblick Birk vergaß, zwängte er sich hastig zwischen zwei große Felsblöcke. Dort saß er lange und fürchtete, jeden Augenblick entdeckt zu werden.
Mit den Wilddruden aber verhielt es sich so, daß es das, was sie nicht sahen, für sie nicht mehr gab. Also gab es nun für die Drude niemand mehr aus dem Menschengeschlecht, dem sie die Augen auskratzen konnte, und wutsprühend flog sie zu den Bergen zurück, um ihren grausamen Schwestern davon zu berichten. Birk sah sie verschwinden, und als er sicher war, daß sie nicht wiederkommen würde, rief er nach Ronja. Und Ronja kroch aus ihrem Versteck unter der Fichte hervor, und beide tanzten vor Freude über ihre Rettung. Welch ein Glück, keiner von beiden würde von den Wilddruden zerrissen, keiner zu ihren Höhlen in den Bergen entführt werden und ein Leben in Gefangenschaft verbringen.
»Im Mattiswald darf man sich nicht fürchten«, sagte Ronja.
»Aber wenn einem die Wilddruden um die Ohren flattern, ist das nicht leicht.«
Von Racker und Wildfang war keine Spur mehr zu entdecken, und darum mußten sie nun den langen Rückweg zur Bärenhöhle zu Fuß machen.
»Ich kann die ganze Nacht wandern, wenn mich nur die Wilddruden in Ruhe lassen«, sagte Birk. Und sie wanderten durch den Wald, sie hielten einander an den Händen, und sie redeten viel, froh und ausgelassen, wie sie nach all den Schrecken waren. Es hatte angefangen zu dunkeln, ein schöner Sommerabend war es, und sie sprachen davon, wie herrlich sie es hatten, selbst wenn es Wilddruden gab. Wie schön es war, in der Freiheit des Waldes zu leben, bei Tag und bei Nacht, unter Sonne, Mond und Sternen, und während des stillen Laufs der Jahreszeiten. Zur Frühlingszeit, die gerade vorüber war, zur Sommerzeit, die jetzt gekommen war, und zur Herbstzeit, die bald anbrechen würde.
»Aber im Winter...« sagte Ronja. Dann schwieg sie. Sie sahen Rumpelwichte und Dunkeltrolle und Graugnomen umherhuschen und bald hier, bald da neugierig hinter Fichten und Steinen hervorlugen.
»Das Dunkelvolk«, sagte Ronja.
»Ja, sie leben auch im Winter sorgenfrei.«
Dann schwieg sie wieder.
»Wir haben jetzt Sommer, meine Schwester«, sagte Birk. Und Ronja spürte im ganzen Körper, daß es so war.
»Diesen Sommer werde ich in mir tragen, solange ich lebe«, sagte sie. Birk sah sich um im Dämmerungswald, und ihm wurde so wunderlich zumute, warum, wußte er nicht. Er wußte nicht, daß das, was er fast wie eine kleine Traurigkeit im Herzen spürte, nur die Schönheit und der Frieden des Sommerabends waren, nichts anderes.
»Diesen Sommer«, sagte er und sah Ronja an, »ja, diesen Sommer werde ich bis an mein Lebensende in mir tragen, das weiß ich.«
Dann kamen sie zurück zur Bärenhöhle. Und auf der Felsplatte davor saß Klein-Klipp und wartete.
14.
PLATTNASIG UND MIT STRUPPIGEM HAAR UND BART SASS ER
Weitere Kostenlose Bücher