Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Sozialismus und die Notwendigkeit einer sozialen Revolution und verurteilte entschieden |208| sowohl jeden Opportunismus gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als auch die sozialreformerischen Illusionen
vom friedlichen Hinüberwachsen in den Sozialismus durch parlamentarische Mehrheiten oder Ministerposten.
Mit großem Interesse verfolgte Rosa Luxemburg die Diskussion. Sie übersetzte Jaurès’ Ansprache, in der er erklärte: »Wir fürchten
den Kampf in Frankreich gegen die sonderbaren Theoretiker nicht, die da behaupten, daß die Republik nicht wert sei, daß das
Proletariat auch nur eine Stunde Arbeit zu ihrer Verteidigung opfere.« 175 Auch für Belgien hätten die Theoretiker nur Geringschätzung aufzuweisen. Derartige Äußerungen strapazierten die Geduld der
Politikerin auf das äußerste. Doch erst gegen Ende, als um die Annahme der Resolution des Dresdner Parteitages gegen den Revisionismus
gerungen wurde, erhielt Rosa Luxemburg das Wort und unterstützte die Position August Bebels und seiner Mitstreiter. Sie forderte
zur Annahme der Resolution als einem Symbol für die Sache des Sozialismus auf, wohl wissend, daß Resolutionen lediglich appellativen
Charakter haben. Aber Regeln für die praktische Politik sollten aufgestellt werden. Direkt gegen Jaurès und Renaudel gerichtet,
warnte sie, »aus dem Klassenkampf, aus der internationalen Solidarität eine Phrase« zu machen. »Wenn ein sozialistischer Minister
in einer bürgerlichen Regierung seine Grundsätze nicht durchführen kann, so ist es eine Sache der Ehre, abzutreten; wenn ein
Revolutionär in einer gemäßigten Partei seine Grundsätze verleugnen muß, so gebietet seine Ehre ihm zu gehen. Ich will die
Renaudelsche Einheit nicht; die Zerrissenheit ist bedauernswert, aber sie ist da. Und nichts ist revolutionärer, als zu erkennen
und auszusprechen, was ist. Vollkommene Resolutionen sind noch nie gemacht.« 176 Jaurès konterte prompt. Dennoch wurde die Resolution schließlich mit Stimmenmehrheit angenommen.
»Feuriger Kampfeswille, tiefe Liebe für den russischen und den internationalen Sozialismus, starker Glaube an den kommenden
Sieg« hätten die Kongreßstimmung geprägt, erinnerte sich Henriette Roland Holst. »Die neuen Viertel der alten Amstelstadt
rund um das ›Concertgebouw‹ fangen des Abends Laute aus allen Weltsprachen auf. Auf den breiten, festlich beflaggten Schiffen,
die die Kongreßteilnehmer an einem freien |209| Nachmittag über die sommerlichen Wasser fahren – unwirklich erscheint ihnen ein Land, das tiefer liegt als seine Flüsse –,
wird von französischen Delegierten die Carmagnole getanzt.« 177 Rosa Luxemburg empfand die auf dem Kongreß geknüpfte Beziehung zu dieser imponierenden Holländerin – sie hatte zum Thema
Generalstreik referiert und eine Sympathieresolution für das Proletariat Rußlands auf den Weg gebracht – als große Bereicherung.
Sie tauschte mit ihr anschließend Erfahrungen aus, die sie während der Kongreßtage gemacht hatten, und knüpften feste freundschaftliche
Bande.
Bringe die »polnische Wirtschaft« meines Seelenlebens in etwas geordnete Zustände
Seit dem 24. August 1904, also wenige Tage nach Kongreßende, saß Rosa Luxemburg im Amtsgerichtsgefängnis in Zwickau ein. Wegen
»Majestätsbeleidigung«, die sie auf einer Volksversammlung in Mülsen-St. Jakob am 8. Juni 1903 begangen haben sollte, war
sie im Januar 1904 von der Strafkammer in Zwickau zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Während der Haft hatte sie
Zeit, die auf dem Kongreß gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten. »Weißt, ich habe viel über Amsterdam nachgedacht«, schrieb
sie am 9. September 1904 an Karl Kautsky, den sie für den bevorstehenden Bremer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zu
etwas mehr Courage in der Polemik anstacheln wollte, nachgedacht ȟber die allgemeine Lage der internationalen Bewegung und
die Aussichten unseres Marxismus in der Internationale; ich habe so viel mit Dir darüber zu sprechen, aber das muß warten.
Moral ist die für mich: daß wir ungeheuer viel z u t u n haben und vor allem ungeheuer zu studieren, ich meine die Bewegung in den verschiedenen Ländern. Ich habe das Gefühl, daß
wir (›Deutsche‹) durch die bloße Erkenntnis der tatsächlichen Bewegung in den anderen Ländern schon eine Überlegenheit und
Einfluß gewinnen, und andererseits habe ich das Gefühl, daß wir durch die bloße Annäherung
Weitere Kostenlose Bücher