Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Versammlungen mit »Russenthema« schlug sie jedoch aus, um ihre Kräfte zu sparen für die im Anschluß an den Amsterdamer
Kongreß anzutretende dreimonatige Gefängnishaft.
Die Reise in das ihr bislang unbekannte Amsterdam unternahm sie mit Kautskys am 12. August von Berlin aus. Ihre Gesundheit
und ihr seelisches Befinden hatten sich stabilisiert: »Wer Rosa Luxemburg in diesen Tagen in Amsterdam sah«, erinnerte sich
Henriette Roland Holst-van der Schalk, »wie sie hüftenwiegend durch die sonnigen Straßen ging, mit einem Gesicht, das in der
Entspannung aufblühte nach der stundenlangen Anstrengung des Sprechens oder Übersetzens, mit einer Stimme und einem Lachen
voll Charme und Übermut –, wer sie so sah, behielt für immer die Erinnerung an ihren außergewöhnlichen Liebreiz. Manche von
denen, die sie zum erstenmal sahen, dachten gewiß: ›Ist das nun die blutige Rosa, wie die bürgerlichen Journalisten, oder
die Megäre, wie manche ihrer Parteigenossen sie nennen?‹« 172
Während des internationalen Meetings im Limäuspark am Eröffnungstag des Kongresses, wo unter freiem Himmel August Bebel, der
Engländer Hyndman, die Österreicher Adler und Pernerstorfer, der Russe Plechanow und der Belgier Vandervelde sprachen, drängten
sich Unterschriftenjäger zwischen die lachenden und lärmenden Menschen. »Besonders die arme Rosa
Luxemburg
wurde immer wieder geplagt«, berichtete Ludwig Frank, »und mit einer Geduld, die mich bei ihr überraschte, unterzeichnete
sie Dutzende von Postkarten.« 173
476 Delegierte aus 24 Ländern waren angereist. Die deutsche Delegation, der Rosa Luxemburg angehörte, setzte sich aus 40 Delegierten
der Partei und 28 der Gewerkschaften zusammen. Die SDKPiL war mit 6 Vertretern anwesend. Im Unterschied zum Pariser Kongreß
von 1900, auf dem Rosa Luxemburg als Referentin fungierte, verfolgte sie in Amsterdam die Debatten vorwiegend als Zuhörerin.
Man hatte sie für die Kommission »Trusts und Arbeitslosigkeit« aufgestellt – ein Thema, für das sie sich seit Jahren besonders
interessierte. Die Resolution der Kommission wurde von dem Belgier Wibeaut vorgestellt. Ihre Annahme bereitete Probleme, sie
erschien vielen zu apodiktisch, ließ zu viele Fragen unbeantwortet. Zudem |207| behandelte die Kommission nur ein Randthema. Im Mittelpunkt des Kongresses stand der Russisch-Japanische Krieg, und damit
die Solidarität für die Russen sowie das Interesse für den erstmals teilnehmenden Japaner Katayama. Heftig diskutiert wurden
– wie schon in der Presse seit dem Regierungsbeitritt Millerands – Fragen der Taktik gegenüber dem bürgerlichen Staat und
des Verhältnisses von Nah- und Fernziel der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien.
In diesem Zusammenhang unterzeichnete Rosa Luxemburg mit Plechanow, Iglesias, Katayama und Rakowski im Namen der russischen
Sozialdemokratie, der polnischen Sozialdemokratie, der spanischen Arbeiterpartei, der bulgarischen Arbeiterpartei und der
Sozialdemokratischen Partei Japans eine Protestresolution gegen den Versuch, »die Kongreßmitglieder in aktive und passive
zu scheiden und sozusagen ein europäisches Konzert der sozialistischen Großmächte zu bilden, das allein das Recht hat, über
grundlegende Fragen des internationalen Sozialismus zu entscheiden« 174 . Sie reagierten damit vor allem auf die Rede des Belgiers Anseele, der vor dem Oktroyieren einer Taktik für große europäische
Parteien durch kleine Parteien warnte.
Mit besonderer Spannung verfolgte Rosa Luxemburg die den Kongreßverlauf prägende Kontroverse zwischen Jaurès, Bebel, Anseele,
Adler und weiteren Repräsentanten des internationalen Sozialismus, die einmal mehr versuchten, sich gegenseitig in ihren Argumenten,
dem Pro und Kontra im Verhältnis zu bürgerlicher Demokratie und bürgerlichen Parteien, zu Republik und Monarchie, zum Parlamentarismus
und Generalstreik, zu übertreffen.
Seit 1898 hatte auch Rosa Luxemburg sich schriftlich und mündlich an dieser internationalen Diskussion beteiligt und war für
eine demokratische Republik mit alternativer parlamentarischer Opposition eingetreten, hatte Reformen – insbesondere das allgemeine,
gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Männer und Frauen – gefordert und für realpolitische Mittel, einschließlich des
politischen Massensteiks, zu deren Durchsetzung votiert. Dabei plädierte sie weiterhin für ein konstruktives Festhalten am
Ziel des
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