Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Bauernbewegungen in Rußland, die sich bei den Sozialrevolutionären widerspiegele. 155 »Genosse Plechanow hat mir den Vorwurf gemacht, daß ich in gewisser Beziehung den verflüchtigten, über den Wolken schwebenden
Marxismus darstelle. Genosse Plechanow, der sogar dann liebenswürdig ist, wenn das nicht seine Absicht ist, hat mir in diesem
Fall wirklich ein Kompliment gemacht. Um sich im Verlauf der Ereignisse zu orientieren, muß der Marxist die Verhältnisse überschauen,
nicht indem er in den Tiefen der täglichen und stündlichen Konjunktur herumkriecht, sondern von einer bestimmten theoretischen
Höhe aus. Und die Warte, von der aus der Verlauf der russischen Revolution zu betrachten ist, ist die internationale Entwicklung
der bürgerlichen Klassengesellschaft und der von ihr erreichte Reifegrad.« 156 Den Vorwurf, sie entwerfe der Revolution zu verlockende Perspektiven, wies sie zurück. Solche Führer seien schlecht und solche
Armeen armselig, die eine Schlacht nur dann aufnehmen, wenn sie den Sieg von vornherein in der Tasche haben. Die russische
Arbeiterklasse sei kühn und werde Vortrupp sein, werde die Rolle spielen, die das französische Proletariat im 19. Jahrhundert
innehatte.
Mit ihren drei feurigen Reden hatte sich Rosa Luxemburg total verausgabt. Daß Leo Jogiches einen Brief Kostja Zetkins abgefangen
und gelesen hatte, kostete sie ebenfalls Nerven. Sie hatte nicht gewagt, ihn zur Rede zu stellen, weil sie einen öffentlichen
Skandal fürchtete, und Kostja bitten müssen, ihr keine Post mehr nach London zu schicken. 157 »Zum Schluß war ich so müde und hatte einen solchen Katzenjammer, daß ich Selbstmordgedanken hatte – Du kennst ja diese Stimmung
aus eigener Erfahrung« 158 , schrieb sie an Clara Zetkin.
Der Parteitag hatte einen deprimierenden Eindruck bei Rosa Luxemburg hinterlassen: »Plechanow ist fertig und hat sogar seine
devotesten Anhänger bitter enttäuscht; er ist nur noch imstande, Witzchen zu erzählen, und zwar sehr alte Witze, die man schon
von ihm seit zwanzig Jahren kennt. Bernstein und |276| Jaurès hätten ihre helle Freude an ihm, wenn sie seine russische Politik verstehen könnten. Ich habe mich tüchtig gerauft
und mir eine Masse neuer Feinde gemacht. Plechanow und Axelrod (mit ihnen Gurwitsch, Martow u. a.) sind das Kläglichste, was
die russische Revolution jetzt bietet. An positiver Arbeit hat der Parteitag äußerst wenig geleistet, aber er hat zweifellos
zur Klärung beigetragen. Die Majorität, im Sinne der prinzipiellen Politik, bildeten: die Hälfte der Russen (die sogenannten
Bolschewiki), die Polen und die Letten. Die Juden vom Bund haben sich als die schäbigsten Schacherpolitiker entpuppt, die
nach vielen Winkelzügen und radikalen Phrasen doch immer dem Plechanowschen Opportunismus die Stange hielten. Ich habe sie
dafür mit geißelnden Worten festgenagelt und sie in hellste Wut gebracht.« 159
Rosa Luxemburg brillierte mit ihren Ausführungen auf dem Parteitag nicht zuletzt durch ihre revolutionsgeschichtlichen Vergleiche
aus der europäischen Geschichte seit 1789. In wichtigen taktischen Fragen der russischen Revolution stimmte sie mit Lenin
überein. Vorübergehend schienen scharfe Gegensätze, wie sie in der parteikonzeptionellen Polemik 1903/04 zwischen ihnen hervorgetreten
waren, in den Hintergrund gedrängt. Da Rosa Luxemburg Kostja Zetkin aus London laufend Post gesandt hatte, war er über ihre
Erlebnisse bestens informiert, als er sie bei der Rückkehr auf dem Bahnhof Zoologischer Garten am 1. Juni 6.30 Uhr, ihrem
Wunsch entsprechend, empfing.
Am 12. Juni 1907 mußte Rosa Luxemburg die ihr in Weimar diktierte Strafe antreten. Bis zum 12. August saß sie im Berliner
Frauengefängnis in der Barnimstraße 10 ein. Sie werde respektvoll behandelt, sei überhaupt ganz zufrieden. »Bloß denke Dir:«,
schrieb sie an Clara Zetkin, »zwei Monate im Abtritt wohnen!« 160
Offiziell durfte Rosa Luxemburg nur einmal im Monat und ausschließlich an Verwandte schreiben. Aber sie war erfahren und klug
genug, die Vorschriften zu umgehen. Für Kostja und Clara Zetkin figurierte die Gefangene als Tante Rosa. Nicht nur einmal
beklagte sich der Gefängnisdirektor über zu häufigen Briefwechsel und zu lange Briefe, die er zu kontrollieren hatte.
Rosa Luxemburg stand früh auf und vergrub sich – um sich |277| abzulenken – in Arbeit. Da sie zum Glück ihre grüne Arbeitslampe und ihren blauen Morgenrock
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