Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
den Wunsch nach inniger Zweisamkeit nicht übermächtig werden zu lassen.
Kostja war Rosa Luxemburg unzählige Male begegnet, nun, da er zum Mann herangereift war, wurde die Freundin der Mutter für
ihn die begehrenswerte Partnerin. Vermutlich fühlte sich Kostja in seiner Familie nicht immer verstanden, nicht wirklich geborgen.
Auf der Suche nach Antworten über den Sinn des Lebens, den richtigen Beruf und eine klare Perspektive versprach er sich allein
von Rosa Luxemburg Hilfe. Sie gab sich ihm begierig hin – auch um den Schmerz ihrer Trennung von Leo Jogiches zu betäuben
und ihre Depressionen zu überwinden. »Kostik, mein Sohn«, »Geliebter kleiner Bubi!« nannte sie ihn und sah in ihm den kleinen
Jungen, »dessen Gesicht Ruhe und Festigkeit atmete, in dessen Seele aber noch graue Morgennebel brauen und unentschlosssen
hin und her wogen wie über einer wundervollen Gebirgslandschaft vor Sonnenaufgang«, um es gleich darauf mit fast harschen
Worten zurückzunehmen: »’s ist alles Quatsch, mein Junge, geh schlafen oder spazieren«. 171 Schwärmerische Liebkosungen und intime Geständnisse sexuellen Verlangens wechselten in ihren Briefen an Kostja mit Alltagsschilderungen,
Belehrungen, Seufzern, Klagen über zu wenig Post und guten Wünschen für seine Unternehmungen und für sein körperliches und
geistiges Wohlbefinden. Einmal hoffte sie, ihn für Nationalökonomie begeistern zu können, um ein andermal mit ähnlicher Eindringlichkeit
seine Fähigkeiten zum Romancier anzustacheln. Sie empfahl ihm die russische Sprache, da in Rußland das Leben am stärksten
sprudele und am intensivsten über die Revolution gestritten werde. Freimütig urteilte sie über Geschehnisse auf nationalen
und internationalen Parteikongressen, über Bücher und Menschen und offenbarte Kostja eigene Zweifel: »Warum, warum muß ich
im Leben durch lauter stechende und schneidende Eindrücke gehen, wo in mir ewig die Sehnsucht nach ruhiger Harmonie weint?
Warum stürze ich mich immer wieder in die Gefahren und Schrecken neuer Situationen, wo |284| das Ich verlorengeht, weil es sich gegen die anstürmende Außenwelt nicht behaupten kann?« 172
Im Innersten wußte Rosa Luxemburg, daß sie einem unerfüllbaren Traum nachlief.
Ganz allmählich besiegte sie Müdigkeit, Nervosität und Ängste. Sie vermochte sich wieder auf ihren Beruf zu konzentrieren.
Durch ruhiges, regelmäßiges Leben und fleißige Arbeit, versicherte sie Kostja am 24. September 1907, sei sie in der Nationalökonomie
wieder ins richtige Lot gekommen; »ich war schon ganz aus der Denkweise heraus, und das drückte mich sehr« 173 .
Schon kam eine neue Herausforderung auf sie zu, die sie total aufwühlte. Da dem Österreicher Rudolf Hilferding und dem Holländer
Anton Pannekoek als Ausländern, Marxisten wie sie, von den Behörden das Unterrichten an der zentralen Parteischule der deutschen
Sozialdemokratie in Berlin untersagt und mit Ausweisung gedroht wurde, fiel die Wahl des Parteivorstandes auf Rosa Luxemburg.
Am 24. September 1907 teilte ihr Karl Kautsky, der ursprünglich vorgesehen war und ablehnte, August Bebels Vorschlag mit,
an der Parteischule das Fach Nationalökonomie zu übernehmen. Sie möge bitte bis zum nächsten Tag definitiv antworten.
Für einige Stunden schwankte Rosa Luxemburg: »Mein erster Gedanke und mein Gefühl war, nein zu sagen«, schrieb sie dem Geliebten.
»Die ganze Schule interessiert mich blutwenig, und zum Schulmeister bin ich nicht geboren. Auch die Ehre, den schönen Rudolf
zu ersetzen, ist gering. Aber andere Gründe sprechen dafür, nämlich es kam mir plötzlich in den Sinn, daß dies am Ende für
mich endlich eine materielle Existenzbasis wäre. Man bekommt 3 000 M für einen halbjährigen Kursus (Oktober – März) zu vier
Vorlesungen in der Woche. Das sind eigentlich glänzende Bedingungen, und in einem halben Jahr hätte ich ständig mehr als für
ein ganzes Jahr verdient, dabei habe ich die Nachmittage immer frei und ein halbes Jahr ganz für mich. Das wäre vielleicht
das vernünftigste, sonst werde ich, mit meiner launischen Art zu arbeiten, immer nur von Zufällen leben; so aber hätte ich
Ruhe und Muße, um für mich wissenschaftlich zu arbeiten. Gerade zupaß kommt es mir, daß ich da für den Berliner Kursus vorbereitet |285| bin, und ich könnte denselben Plan benutzen, nur ausführlicher.« 174
Am nächsten Tag sagte sie zu, nachdem sie an den Beratungen des
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