Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Wirtschaftsgeschichte, |291| sondern bezog politische Ereignisse, völkerkundliche und gesellschaftstheoretische Aspekte, Kunst und Literatur in der jeweiligen
Region und Entwicklungsphase ein. Hier machte sie auch für sich selbst neue Entdeckungen, wie sie später Kostja angeregt berichtete:
»Mir ist beim Lesen Ed[uard] Meyers und beim Nachdenken über meine ökonomische Arbeit plötzlich mit ungeahnter Klarheit eine
neue Sache vor den Augen erstanden, und das ist: die kolossale Bedeutung der antiken Geschichte und Kultur, und zwar nicht
der griechisch-römischen, sondern der so vernachlässigten babylonisch-assyrischen. Ich fühle, daß da eine ganze Welt und Kultur
für sich war, die, wenn auch verschwunden, direkt entscheidend für die ganze Menschheit war. […] Ich habe das deutliche Gefühl
bekommen, daß wir mit unserer kleinen frischpolierten europäischen Kultur ordinäre Emporkömmlinge sind, die keine Ahnung mehr
von ihren Urahnen haben, die einst wirkliche Aristokraten der Kultur waren. 190
Besonders eingehend behandelte sie die Geschichte des Altertums, vor allem Griechenlands und Roms, die Geschichte Indiens
und Algeriens, natürlich auch Deutschland, England, Frankreich, die Niederlande und Rußland. Erst dann machte sie ihre Schüler
mit den drei Bänden des »Kapitals« vertraut. Mit viel Geschick und Überzeugungskraft legte sie die von Marx untersuchten Probleme
der politische Ökonomie dar und ging anschließend auf die Entwicklung der Kartell- und Trustbildung in Belgien, Deutschland,
Österreich und in den USA ein. Ausführlich erörterte sie das Verhältnis zwischen Kartellwesen und Krisenanfälligkeit des kapitalistischen
Wirtschaftens.
Dabei wies sie auch auf die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnisse hin und stellte zum Beispiel folgende Beobachtung in den Raum:
»Die Anarchie, die man durch die Kartelle beseitigen wollte, wird durch diese auf erweiterter Stufenleiter in viel gewaltigerem
Maßstabe reproduziert. Tendenz zur Internationalisierung. Diese Tendenz besteht zweifellos, aber wie jede Tendenz erzeugt
auch diese eine Gegentendenz. Bis heute ist noch kein internationaler Trust entstanden. Ein solcher wird durch die im Wesen
der kapitalistischen Gesellschaft begründeten Interessengegensätze verhindert.« 191
|292| Großen Wert legte sie darauf, sich eingehend mit den bürgerlichen Nationalökonomen, zum Beispiel mit dem Leipziger Professor
Karl Bücher, auseinanderzusetzen, dessen Buch über die Entstehung der Volkswirtschaft sie bisher jedesmal nach zwanzig Seiten
weggelegt hatte. Jetzt aber las sie mehr und gründlicher. »Eine Fülle von Anregungen hat mir der gemeine Mist gegeben […].
Es ist so viel zu tun, und kein Mensch tut etwas! Der Augiasstall muß längst mit eisernem Besen ausgemistet werden.« 192 Wo es ihr angebracht schien, meldete sie, untermauert mit Fakten aus der Geschichte der ökonomischen Entwicklung bestimmter
Länder bzw. mit exakten statistischen Angaben, Zweifel an Behauptungen nichtmarxistischer Autoren an und wies darauf hin,
wie diese widerlegt werden könnten.
Und immer wieder plädierte sie für ein intensives Selbststudium. Es erschien ihr ideal, am Nachmittag nicht zu unterrichten,
damit zu Hause der am Vormittag gehörte Vortrag rekapituliert, die Notizen durchgearbeitet und entsprechende Broschüren und
Bücher gelesen werden konnten. Wegen dieser Forderungen und Ansichten war Rosa Luxemburg ebenso beliebt wie gefürchtet. Oberflächlich
arbeitende Kursusteilnehmer hatten bei ihr nichts zu lachen; sie ließ ihnen in den Debatten kaum Schlupfwinkel. »Durch Fragen
und immer erneutes Fragen und Forschen holte sie aus der Klasse heraus, was nur an Erkenntnis über das, was es festzustellen
galt, in ihr steckte. Durch Fragen beklopfte sie die Antwort und ließ uns selbst hören, wo und wie sehr es hohl klang, durch
Fragen tastete sie die Argumente ab und ließ uns selbst sehen, ob sie schief oder gerade waren, durch Fragen zwang sie über
die Erkenntnis des eigenen Irrtums hin zum eigenen Finden einer hieb- und stichfesten Lösung«, schrieb Rosi Wolfstein. 193
Mitdenken und selbständige Aneignung von Wissen forderte und begrüßte sie im Unterricht wie in Konsultationen. Mit solchen
Postulaten wirkte sie auch auf Kostja Zetkin ein. »Daß Du schreibst, Dir komme durch die Trustfragen das ›Kapital‹ immer näher,
und Du hättest Lust, es jetzt zu lesen, macht mich geradezu glücklich.
Weitere Kostenlose Bücher