Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
am 12. April mit Karl Kautsky nach Baugy sur Clarens
an den Genfer See. Auf Kautskys Geheiß reisten sie über Frankfurt am Main und Basel, ohne in Stuttgart Halt machen zu können.
Seine Mutter hatte Bedenken, es könnte dummes Gerede geben, wenn er mit Rosa Luxemburg allein in die Schweiz reisen würde.
Und zu allem Unglück mischte sich abermals Leo Jogiches in ihre Urlaubspläne ein. Er drohte, ihr nachzureisen, und nährte
damit ihren Wahn, daß er sie mit Kostja überraschen und sich an ihnen aus Eifersucht rächen wolle.
Auch vom Genfer See aus unterhielt sie mit Kostja einen heimlichen, aber intensiven Briefwechsel. Sie bemängelte die ängstliche
Zurückhaltung in seinen Briefen, provozierte ihn |301| mit Erzählungen von Träumen über seine Untreue und klagte über ihr Alleinsein. In ihrem Unmut spöttelte sie über alles – das
Wetter, die Pensionsgäste, auch über Karl Kautsky, der ein netter Gesellschafter sei, aber partout nicht zum Spazierengehen
zu bewegen sei und nur auf dem Balkon oder im Gras liegen wolle. »Ich hatte keine Ahnung«, bemerkte sie in einem Brief vom
16. April 1908, »daß er schon so ruhebedürftig ist, ich hielt ihn für viel jünger. Danach graut mir ein wenig vor ganzen zehn
Tagen, die er hier verbringen will, ohne eine einzige Tour zu unternehmen. Dabei locken die Berge ringsherum so, daß man kaum
widerstehen kann. Heute früh saß ich oben und schaute auf den See unten und die Schneeberge am anderen Ufer, ließ mich von
der Sonne braten und hörte dem Gesumm der Hummeln zu; irgendwo im Dorf gackerte beharrlich ein Huhn, und hinter mir ertönte
der einförmige Schlag der Spaten, womit die Bauern jetzt überall ihre Weinberge aufwühlen. So viel Friede ist über dem Ganzen
hier ausgegossen, daß ich mir gar nicht mehr die wilde, todbringende Leidenschaft vorstellen kann, die mich verfolgt und bedroht.
Zugleich habe ich irgendwo in der Tiefe des Hirns den Gedanken: Laß dich nur nicht einlullen von diesem Frieden herum, das
Gespenst lauert hinter deinem Rücken und wartet gerade darauf, daß du es vergißt … Diudio, mein geliebter Kleiner, wie schön
wäre es, wenn Du so neben mir hier am Rande des Weinberges sitzen würdest. Wenn ich auch mit K[autsky] spaziere, er faßt alles
anders auf als ich. Kalt, pedantisch und doktrinär, was mir die Illusion zerstört.« 213 Um so mehr sehnte sie sich nach lieben Worten von Kostja. Der letzte Brief sei so voller Angst und Zurückhaltung gewesen
und hätte sie in ihrer momentanen Verfassung leicht irregemacht, schrieb sie. Wenn doch die Tage hier schon um wären und sie
sich sehen könnten.
Dennoch erholte sich Rosa Luxemburg. Sie schrieb an einem Artikel und quälte sich mit Gedanken über den 1. Mai, an dem sie
in Stuttgart auf Wunsch von Fritz Westmeyer reden sollte – eine Verpflichtung, die ihr großes Unbehagen bereitete. Sie befürchtete,
zu diesem Anlaß vor Tausenden nicht zündend genug reden zu können. »Glaube mir doch«, hatte sie bereits vor dem Urlaub an
ihre Freundin Clara geschrieben, »das ist keine Redensart. Ich habe nicht einen blassen Dunst, nicht einen |302| Hochschein von einem Gedanken im Kopf. Seit meiner Geburt waren mir die Märzreden und die Maireden ein Greuel. Ich tauge zu
einer Festrede wie die Kuh zum Menuett.« 214 Da sie aber auf der Heimreise in Stuttgart Station machen und mit Kostja endlich zusammentreffen wollte, befand sie sich
in einer Zwickmühle. Sie rang sich durch, Westmeyer abzusagen und dennoch nicht auf den Zwischenaufenthalt in Stuttgart zu
verzichten. Mittlerweile hatte sie Karl Kautsky fürs Spazierengehen gewinnen können; er erholte sich ebenfalls merklich. Rosa
Luxemburg schwärmte gegenüber Kostja von ihren Bergtouren: »Heute gingen wir im Schneesturm hoch hinauf, und wie wir oben
waren, lugte die Sonne durch und beleuchtete den wundervollen blauen See im weißen Rahmen der verschneiten Berglandschaft.
Es war zauberhaft schön.« 215
Kaum war sie über Stuttgart nach Berlin zurückgekehrt, peinigten sie wieder Depressionen und Migräneanfälle. Die Angst, Kostja
zu verlieren, raubte ihr den Schlaf. Wie schon so oft flüchtete sie sich in die Arbeit. Wenn sie auch versuchte, Leo Jogiches
aus dem Weg zu gehen, so war das Zusammentreffen in einer Wohnung nicht zu vermeiden. Weiterhin mußten ja auch ihre Tätigkeiten
für die polnische Partei beraten und abgestimmt werden. Darauf wollten beide selbst unter den
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