Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
den Schlachtensee und versuchte zum ersten Mal Freiluftmalerei. Wieder berichtete sie Kostja
alles haargenau: »[…] Gott, welche Schwierigkeiten! Ich konnte ja nur ein Skizzenbuch mitnehmen, also auf dem einfachen Papier
und in der Luft malen […] Auch mußte ich auf einem winzigen Format malen, und ich habe das Bedürfnis, gleich ganz große Bilder
zu machen, sonst hat der Pinsel gar keine Wucht. Und zum Überfluß konnte ich nur eine Stunde knapp malen, dann kamen Leute
und trieben mich fort. Also genug, um mich verzweifelt zu machen, da außerdem noch das Wasser alle Augenblicke sich veränderte
und der Himmel auch (heute kommt immerzu ein Gewitter). Ich war nahe dem Weinen, wie ich nach Hause fuhr. Aber gelernt habe
ich wieder was. […] Ach, Dudu, könnte ich jetzt zwei Jahr nur dem Malen leben – das würde mich verschlingen. […] Aber das
sind wahnsinnige Träume, ich darf ja nicht, denn meine klägliche Malerei braucht kein Hund, meine Artikel aber brauchen die
Leute.« 225
Konnte Rosa Luxemburg einen Tag nicht zum Pinsel oder Zeichenstift greifen, war sie verdrossen. Kohle- und Federzeichnungen, |307| Aquarelle und Ölgemälde entstanden, oft verpatzte sie alles, weil sie sich nicht genug Zeit nahm. Sie versuchte sich auch
im Porträtieren, sogar Selbstporträts entstanden. In allen Menschen erblickte sie plötzlich Modelle.
Als der Unterricht an der Parteischule wieder begann, zeichnete Rosa Luxemburg höchstens am Sonntag zur Entspannung mal die
Katze, mal Hans Diefenbach. Das Malen mußte sie vorübergehend aufgeben. Nach Abschluß des Kursus Ende März 1909 konnte sie
endlich auch Kostja in verschiedenen Posen zeichnen und in Ruhe porträtieren.
Brauchst nicht zu denken, die Energie sei bei mir fort
Mitte April 1909 begab sich Rosa Luxemburg auf eine Reise, die sie für mehrere Monate in den Süden führte. Haus und Garten
von Clara Zetkin und Friedrich Zundel waren ihre erste Station. Hier wollte sie vom Berliner Trubel ausspannen, den Frühling
genießen, in Ruhe arbeiten und in Kostjas Nähe sein. Sie bewohnte im oberen Stockwerk ein eigenes Zimmer mit Blick in den
großen Garten, für ihr leibliches Wohl wurde ganz selbstverständlich gesorgt. In ihrem Zimmer quartierte sich eine Katze mit
zwei possierlichen Jungen ein, die Rosa Luxemburg fütterte, zu Bett brachte und weckte. Gelegentlich sorgten Freunde des Hauses
wie Hugo Faisst und Hans Diefenbach oder Post von Kautskys und anderen Bekannten für Abwechslung.
Der launische April machte seinem Namen alle Ehre. Tagelang herrschten Sturm, Kälte und Regen, schrieb sie an Clara Zetkin,
die sich zu Vorträgen in London aufhielt. 226 Dennoch entfalte der Garten seine Blütenpracht. Der Kuckuck rufe immerzu, und abends fehle es nicht am Konzert der Frösche.
Der Natur aber gab sich Rosa Luxemburg nur für Augenblicke hin. Sie stand 6.30 Uhr auf und arbeitete den ganzen Tag allein
in ihrem Zimmer bis zum Abendbrot gegen 19 Uhr, denn sie wollte und mußte erst ihre Verpflichtungen gegenüber der Zeitschrift
»Przegląd Socjaldemokratyczny« erfüllen, bevor sie den Kopf vom Schreibtisch heben konnte. Sie habe zweieinhalb Wochen wie
im Gefängnis gelebt, gestand sie Luise |308| Kautsky. Kostja Zetkin hatte mit ihrem Anblick in den späten Abendstunden vorliebzunehmen und wurde auf spätere Urlaubstage
vertröstet.
Als Leo Jogiches Artikel anmahnte, bemühte sie sich u.a. bei den Freunden Fritz Austerlitz, Antonin Němec, Luis B. Boudin
um informative Berichte über die Partei- und Gewerkschaftsbewegung in deren Ländern. Von Rosa Luxemburg erwartete die Redaktion
auch zu mehreren Themen Beiträge, doch sie wollte sich auf die Fortsetzung ihrer Serie »Die Nationalitätenfrage und die Autonomie«
konzentrieren, die im »Przegląd Socjaldemokratyczny« von August bis Dezember 1908 erschienen war. Am 1. Mai 1909 berichtete
sie Leo Jogiches, 106 Seiten lägen vor, und am selben Tage sandte sie 90 für drei Artikel à 30 Druckseiten an Julian Marchlewski
ab. Die Arbeit am letzten Teil würden sich hinziehen, da Vorarbeiten fehlten.
Die Artikelfolge »Die Nationalitätenfrage und die Autonomie« ist die umfassendste und gründlichste Stellungnahme Rosa Luxemburgs
zu Problemen der nationalen Frage im Zusammenhang mit den Nah- und Fernzielen des Proletariats im antikapitalistischen Befreiungskampf.
Detailliert erörterte sie nach dem Grundsatzteil von 1908 über das nationale
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