Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
Selbstbestimmungsrecht nun folgende Themen: Der
Nationalstaat und das Proletariat, Föderation, Zentralisation und Partikularismus, Zentralisation und Selbstverwaltung, Nationale
Frage und Autonomie, Autonomie des Königreichs Polen. Eigenartigerweise wurde die in polnischer Sprache verfaßte Abhandlung
nur in wenigen Biographien an historisch-konkreter Stelle mit Aufmerksamkeit bedacht und bisher nicht vollständig in anderen
Sprachen publiziert. 227
Wie und wann es zur nationalen Wiedergeburt Polens kommen könnte, wie das Verhältnis von Nationalität und Internationalität
vom sozialdemokratischen Standpunkt aus betrachtet und gelöst werden müßte, welche Zukunft Nationen und welches Aussehen National-
oder Nationalitätenstaaten im Sozialismus einmal haben würden und wie schädlich sich Nationalismus für die Freiheit und den
Frieden der Völker auswirke – darüber hatte Rosa Luxemburg seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts reflektiert.
1905 schrieb sie im Vorwort zum Sammelband »Die polnische |309| Frage und die sozialistische Bewegung«: »Der marxistische Sozialismus unterscheidet sich unter anderem von allen anderen ›Sozialismen‹
dadurch, daß er nicht mit dem Anspruch auftritt, alle durch die historische Entwicklung entstandenen Löcher stopfen zu können.« 228 Laut Programm strebe die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands eine demokratische Republik an, deren Verfassung allen
Nationalitäten, die zum Staatsverband gehören, das Recht auf Selbstbestimmung zusichert. Ihre Artikelserie »Die Nationalitätenfrage
und die Autonomie« verstand Rosa Luxemburg als ein mit vielen geschichtlichen Beispielen und Vergleichen untermauertes Plädoyer
für die enge Verknüpfung von nationalem Selbstbestimmungsrecht und sozialen Zielen.
Rosa Luxemburg wandte sich gegen die verbreitete und von Nationalisten ausgenutzte These von der Nation als einer sozialpolitischen
Einheit und gegen die Verherrlichung des Nationalstaates als idealer Lösung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Ihr
erschienen weder zeitlose, klassenneutrale nationale Ziele noch klassenneutrale Lösungen von Nationalitätenproblemen realistisch.
Für die in einem geteilten und national unterdrückten Land aufgewachsene Politikerin besaßen eigenständige Wurzeln, Sprache
und Lebensweise jedes Volkes, d. h. alle Faktoren, die nationale Geschichte, Kultur, Traditionen und nationale Gefühle prägen,
hohen Wert. Sie wußte und hatte es selbst erlebt: »Sogar die unmenschlichste Unterdrückung der
materiellen
Interessen« könne keinen »so fanatischen, flammenden Aufruhr und Haß« hervorrufen »wie Unterdrückung im Bereich des geistigen
Lebens, wie religiöse oder nationale Unterdrückung«. 229 Da jedoch »die Tatsache bestehen bleibt, daß dieses Unrecht nur ein Tropfen im Meer der ganzen gesellschaftlichen Not ist«,
müsse die Formel vom Recht auf nationale Selbstbestimmung im Geist der Arbeiterpolitik und sozialistischer Zielstellung präzisiert
werden: »Freiheit des Lebens und der national-kulturellen Entwicklung, bürgerliche Gleichberechtigung und Beseitigung jeder
nationalen Unterdrückung« 230 . Die völlige Gleichberechtigung der Bürger, das Recht auf die eigene Sprache und die Bezirks- und Stadtselbstverwaltungen
als sozialdemokratische Postulate hatten für Rosa Luxemburg mindestens |310| einen ebensohohen Stellenwert für die Lösung der Nationalitätenfrage.
Wie 1896 in der Londoner Resolution der II. Internationale formuliert, könne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen erst
im Zuge der Realisierung sozialistischer Grundsätze und Ziele gesichert werden. Für die praktische Politik besitze die Losung
vom nationalen Selbstbestimmungsrecht keine bzw. nur negative Bedeutung. Rosa Luxemburg wollte nicht anerkennen, daß z. B.
polnische Arbeiter an der Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit größeres Interesse haben könnten als an der Befreiung
von kapitalistischer Ausbeutung. Das Proletariat war ihrer Meinung nach »gegen das kunstvolle Verflechten seiner Klasseninteressen
mit nationalen Traditionen« 231 genügend gewappnet und fähig, sich nationalistischer Tendenzen zu erwehren. Die Solidaritätsaktion der 350 000 Polen für die Opfer des Petersburger Blutsonntags schien diese Einschätzung zu bestätigen. Dennoch irrte Rosa Luxemburg
grundsätzlich, wenn sie das nationale Engagement in Kreisen des Kleinbürgertums, der
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