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Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.

Titel: Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annelies Laschitza
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seinem Kopf den liebevollen Hauch einer Schnauze oder das Ende einer knallenden Peitsche zu spüren bekommt; denn
     so was wie Trennung des Bürgersteigs vom Fahrdamm ist hier als undemokratisch verpönt, und jeglicher Kreatur ist überlassen,
     sich durchs Leben und durch die Gasse mit Ellbogen zu schlagen. Drei Lieblingsbeschäftigungen habe ich bei den Genuesern bemerkt:
     das Herumstehen mit den Händen in den Hosentaschen und einer Pfeife im Mund, um irgendeinem beschäftigten Mitmenschen, z.
     B. den Hafenarbeitern oder auch Erdarbeitern, mit ruhiger Sympathie stundenlang zuzuschauen, ferner das Ausspucken alle viertelstundenlang,
     aber nicht so einfach und formlos wie bei uns, sondern kunstvoll, im langen, dünnen Strahl aus dem Mundwinkel, ohne den Kopf
     zu bewegen und mit einem kleinen Zischlaut, endlich – sich rasieren zu lassen, und zwar nicht morgens, sondern abends. Um
     7 bis 10 oder 11 Uhr abends kann oder vielmehr muß man in allen Straßen rechts und links in den offenen Läden der parrucchieri
     (jeder dritte Genuese ist ein parrucchiere, die zwei anderen Schwindler von unbestimmter Beschäftigung) in weiße Mäntel gehüllte
     sitzende Gestalten bewundern, die mit philosophisch erhobener Nase die schmutzige Decke zu betrachten scheinen, während ein
     flinker schwarzäugiger Jüngling ihnen mit nicht ganz weißen Fingern um die Visage herumtanzt. Von übrigen Merkwürdigkeiten
     ist zu bemerken, daß dank des Staatsmonopols das Salz ein Luxusgegenstand ist, infolgedessen das Brot ganz ungesalzen, |315| auch ohne Hefe ist und im Geschmack ungefähr der Mischung gleicht, mit der man bei uns im Norden zum Winter die Fenster zu
     verkitten pflegt. Auch der Zucker kostet – aus einem mir nicht näher bekannten Grund – 85 Centesimo das Pfund, und ›das Pfund‹
     faßt in Italien, wie ich erst jetzt nach längeren betrübenden Erfahrungen herausgebracht habe – nur 350 Gramm; infolgedessen
     vergißt der cameriere im Café regelmäßig beim Servieren des Tees die Zuckerdose, und bis man Gelegenheit hat, ihn auf diese
     Kleinigkeit aufmerksam zu machen, wird der Tee kalt. Schließlich gehen und kommen die Züge mit einer normalen Verspätung von
     ein bis zwei Stunden, und wenn ein naiver Indogermane aus dem Norden Europas in Schweiß gebadet im letzten Moment (nach dem
     Orario) ins Coupé springt, so hat er dann reichlich Zeit, sich abzukühlen und zu beruhigen; nach Verlauf einer halben Stunde
     nämlich ruft der Schaffner erst mit sonorer Stimme ›partenza‹, um darauf zusammen mit dem Lokomotivführer im Buffet zu verschwinden;
     nach einer weiteren halben Stunde erscheinen beide sichtlich erfrischt und in guter Stimmung auf dem Perron, und der Zug setzt
     sich dann allmählich wirklich in Bewegung. (Dies erlebte ich gestern, als ich einen Ausflug an die Riviera levante machte
     und infolge der Verspätung um 2 ½ Uhr nachts nach Hause kam.) Über alledem lacht natürlich ein ewig blauer Himmel, und ich
     weiß jetzt schon, weshalb er lacht. Übrigens lacht er nur, insofern es nicht regnet. Ecco una breve macchietta meiner Eindrücke.« 240
    Rosa Luxemburg begann den Brief mit »Genova superba«, gab kokett ein paar Kostproben ihrer neuerworbenen Italienisch-Kenntnisse
     zum besten und jonglierte mit sämtlichen Umgangsfloskeln, die sie nach wenigen Tagen beherrschte.
    Hoch über der Stadt mietete Rosa Luxemburg in guter Lage ein Zimmer mit herrlichem Blick aufs Meer. »Das Fehlen von Berlin
     und Deutschland allein tut mir sehr wohl, auch die Sprache macht mir Freude« 241 , schrieb sie an Hans Kautsky, bemängelte aber gleichzeitig, es sei zu warm, städtisch, an der Riviera gäbe es keinen richtigen
     ruhigen Strand, bloß Klippen und steile Felswände und in den Buchten immer eklige Kurorte und lärmende Städtchen.
    Etwa ab 25. Mai 1909 schrieb Rosa Luxemburg aus Levanto: |316| »Mein hiesiges Nest liegt reizend an einer kleinen Bucht, aber zum Glück ohne Hafen, so daß keine Fischerbarken und Segelboote
     den Ausblick versauen wie in Sestri Levante (wo Gerhart Hauptmann sta lavorando nella tranquillità lucida et fragranta, wie
     ich aus dem ›Secolo‹ erfahren habe). Auch liegt es nicht an der großen Touristenstraße wie die Ponente und die Levante bis
     Sestri, wo die Automobile vorbeisausen und vorbeiduften. Eingefaßt ist das Staedtle von weichen Appeninhügeln, die, mit Oliven
     und Pinien bedeckt, ein Grün in allen Schattierungen darbieten. Ganz still ist es hier, nur

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